EIN JUNGER DICHTER

Obwohl Verlagskaufleuten schon bei dem Wort »Gedicht« die Haare zu Berge stehen und kaumwer sich noch die Mühe macht, zwischen Belangvollem und Belanglosem zu differenzieren, ist das Interesse am lyrischen Ausdruck ungebrochen. Die zeigt besonders das elektronische Netz, wo es jedermann möglich ist, ungefiltert an die Öffentlichkeit zu treten. Daß Foren für Gedichte sogar kommerziell betrieben werden, ja, daß es sogar Betrüger als Trittbrettfahrer gibt, beweist, daß hier ein erhebliches Potential besteht. Mit der Säkularisierung hat der allgemeine Hang zu Literatur stetig zugenommen. Es wäre verwunderlich, wenn sich dies in jüngster Zeit umgekehrt hätte. Die lyrische Form gilt als die subjektivste und zugleich als die sparsamste für den Autor wie für den Rezipienten.
Als mir Florian Kiesewetters Gedichte zum ersten Male in den Weiten des Datenmeeres begegneten, fiel mir sofort auf, daß hier jemand nicht nach der üblichen Sparsamkeit trachtete, mit minimalem Einsatz den maximalen Effekt zu suchen. Ganz im Gegenteil: der Autor beschwor Bilder und Szenen vielfältigster Mythologien, verschachtelte seine Exkurse wie Sommernachtsträume und hob im einmal gesetzten Versmaß zu immer neuen Strophen an. Das zentrale Wunder ist für den jungen Autor die Liebe, unendlich sind die Assoziationen, unendlich die Preisungen der begehrten Frau, unendlich die Leiden des Getrennten und Verschmähten. Dies ist der Königsweg in die Welt der Dichtung, denn im Lenz des Jahres und des Lebens wird fast jeder zum Extremisten des Herzens. Das Wort Extremismus ist bewußt gesetzt, denn der Eingang in höhere Sphären des Geistes gelingt allein auf dem Wege der Tabuverletzung. Nicht der sonnige Einklang mit allem und jedem führt uns zur Geistigkeit, sondern das Leiden am Widerspruch.
Dieser Extremismus des Gefühls ist deutlich zu scheiden von einem, der Ähnlichkeiten zum Altersstarrsinn aufweist. Das ärgste aller Vorurteile ist jenes, keine zu besitzen. Jeder Mensch hat und braucht Vorurteile, aber es macht einen großen Unterschied, ob er als Herr oder als Sklave dieser Vorurteile agiert. Ein besonderer Starrsinn ist es, den Kanon der guten Gedanken für abgeschlossen zu achten, also konservativ im Sinne einer Konserve zu sein. Dabei ändert es wenig, wenn man sich selbst als »links« apostrophiert und im Kanon nur »linke« Gedanken versammelt sind. Man ähnelt so rasch dem pawlowschen Hund, der auf bestimmt Reizworte in berechenbarer Weise reagiert. Es ist auch ein höchst albernes Credo, zu sagen, man sei für alles offen, was selbst die Qualität des Allseitsoffenen habe. Dies ist eine Nullmenge und damit das Eingeständnis des hermetisch Geschlossenseins. Denn ein unbegrenzt Offenes ermangelt jeglicher Identität.
Wenn man den Extremismus geistig und nicht rein äußerlich faßt, gibt es auch einen Extremismus der Mitte. Der wird seit der Romantik als Spießertum bezeichnet. Beim Spießertum muß man unterscheiden von einer Lebenspraxis und einem geistigen Prinzip. Wie der Dichter lebt, ist für seine Verse eher sekundär, wesentlich ist seine geistige Gestimmtheit. Das Wesen der Literatur ist die Leidenschaft. Und wer leidenschaftlich ist, der darf auch leidenschaftlich irren.
Es ist nicht so, daß der Mensch durch Erziehung von eindimensionalen Reflexen zu differenzierter Toleranz geführt würde. Bereits die frühesten Lebensäußerungen sind höchst komplex. Das Wort »Instinkt«, auf das Nietzsche immer so gern zurückkommt, ist aus der Wissenschaft weitgehend verbannt, weil damit das schlechthin Unbekannte bezeichnet wird. Die angeborenen Möglichkeiten entfalten sich am ehesten im aktiven Handeln, verkümmern dagegen im passiven Konsumieren. Deshalb stellt die Medienindustrie die größte Bedrohung des freien Geistes dar und nicht etwa der »Extremismus« von ein paar Wirren oder gar Alkoholisierten.
Die Tragik der DDR bestand ja darin, daß die Staatsmacht fortwährend »Feinde« verfolgte und dabei den wirklichen Feind, die Konsumverführung des Westens übersah. Die Feinde der DDR waren aber nicht die langhaarigen Jugendlichen, die Besucher der Blues-Festivals, die provokanten Dichter und die kirchlichen Gruppen, sondern die Strategen an der Ostküste der USA, die die Nato nun schon bis in die Ukraine ausdehnen wollen. Leider haben das noch nicht einmal die heutigen DDR-Nostalgiker begriffen. Auf der Seite der Freien Deutschen Jugend (FDJ) las ich heute, die Aggressoren im ehemaligen Jugoslawien wären als erstes und zweites die aggressiven Deutschen und erst als drittes kämen andere Imperialisten. Das ist eine groteske Verkehrung der realen Machtverhältnisse.
Florian Kiesewetters Dichtung ist in ihren Themen recht unpolitisch. Es gibt keine Polemik, keinen unmittelbaren Zeitbezug, auch keine Anspielungen zwischen den Zeilen. Der Titel des Buches »Sternbildsonate« deutet bereits an, daß es um die Stellung des Menschen im Kosmos geht und daß diese harmonisch, nach musikalischen Prinzipien, gefaßt werden soll. Aber wer ist dieser Mensch, der seine Stellung zu den Sternen bestimmt. Hier komme ich auf meine zentrale These: es ist die Generation, die beim Fall der Mauer geboren wurde und die sich jetzt zu Wort meldet. Ich versuche im folgenden darzutun, daß Florian Kiesewetter nicht nur zufällig dieser Generation angehört, sondern Stimme dieser Generation ist. Mit ihm findet sie Eingang in die hohe Literatur.
Diese Generation hat allen Grund, sich betrogen zu fühlen. Wenn immer wieder von der Fetischisierung der Jugend gesprochen wird, so kann sie nur darüber lachen. Natürlich gibt es diesen Fetisch, aber die reale Jugend hat herzlich wenig davon. Der Schulabgänger bekommt heute oft keine Lehrstelle mehr, gerade in den neuen Ländern. Eine Aussicht auf Besserung dieser Situation besteht nicht. Auf diese Weise fehlt ihm auch der Kontakt mit Kollegen, die nicht seiner Altersklasse angehören. Die meisten Kinder wachsen als Einzelkinder auf, in einem großen Überfluß, dem nur das fehlt, was Kinder wirklich brauchen. Die Erziehungsprinzipien sind entweder weltfremd oder eine organisierte Prinzipienlosigkeit. Das Dogma, man lebe in der besten aller Zeiten und habe dafür dankbar zu sein, muß ohnehin jeden Jugendlichen empören. Am stärksten aber wiegt der Umstand, daß junge Leute heute wie in keiner anderen Zeit Probleme haben, zum anderen Geschlecht zu finden. In einer Umwelt, die sich geradezu pornographisch gebärdet, entwickelt dies Sprengstoff.
Auf die Frage der Partnerwahl möchte ich etwas eingehen. Auf dem Ratgebermarkt sind »Hilfen« in dieser Hinsicht eines der stärksten Umsatzsegmente. Im Netz wimmelt es von Versprechen wirksamer Hilfe. Diese funktioniert im allgemeinen so, daß behauptet wird, mit der Auswahl und der Zahl der Kontakte wachse die Wahrscheinlichkeit des goldenen Treffers. Dies ist aber gerade der Irrtum. Die Vermassung kommt allein dem Exotismus zugute, den man auch weniger freundlich als Perversion bezeichnen kann. Im Meer des Angebots kommt es auf das Auffallen an. Ein »gewöhnlicher« Junge ist wenig gefragt.
Tradionell vollzog sich die Erotik durch bestimmte Riten. Es gab den Tanz unter dem Lindenbaum, wo bereits das Nachhause-Begleiten-Dürfen als großer Sieg empfunden werden konnte. Auch gab es den ersten Tanz, das verlorene Taschentuch und vieles mehr. Der Gedichtband von Florian Kiesewetter ist ein Signal, daß sich die Jugend nach den verloren gegangenen Riten sehnt. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Schauen wir zuerst die Liebe zur Prinzessin von Artern an. Zunächst die Titulierung. Hier geht es nicht wie im Naturalismus um eine Hure, eine Lebefrau oder gar um eine Emanze. Diese Topoi haben für die jungen Männer keine Faszination mehr. Der Prinzessin eignet eine große Passivität, sie beweist sich nicht, sondern sie fasziniert in ihrem gottgegebenen Sosein. Mancher mag an die Prinzessin auf der Erbse denken. Dies schreibt aber nicht ein verklemmter Weichling, sondern ein Mensch mit einem riesigen Freundeskreis, der an Abenteuern und Fahrten nicht wenig vorweisen kann. Offenbar gibt es in diesem Kreis eine große Sehnsucht nach Ritterlichkeit, ja nach der Minne des Mittelalters.
Zur Ritterlichkeit paßt, daß der glücklichere Konkurrent geachtet wird und billige Wege verschmäht, sich seiner zu entledigen. Das Gedicht beginnt mit einer Klage und dem Wunsch, diese an die Begehrte heranzutragen. In der letzten Strophe wird dies jedoch aufgegeben, statt dessen ein stummes »Tänzchen« begehrt, also nicht ein Diskurs, sondern ein Ritus. Mit der kleinen Abweichung des Refrains ins Präteritum wird angedeutet, daß dieser Ritus zum ganzen Erfolg führt. Also nicht die Dialektik des geistige Überlegenen, sondern das gänzliche Absehen vom Wettstreit, das substantielle Unterordnen unter die Tradition des Ritus. Das klingt fast nach Frömmigkeit.
Im »Lilienstück« sind unschwer drei Aspekte des Weiblichen zu erkennen. Es gibt hier einmal die unmittelbar Ausgezeichnete, also die bereits erwähnte Prinzessin, dann jene am Wege, die vor allem von Raum und Zeit der Begegnung charkterisiert ist, schließlich eine, die Auflösung, Heimkehr und Ziel bedeutet. Der Schluß ist eine Absage an alle Institutionalisierung, und damit der Kern der romantischen Weltsicht. Das ist aber heute nicht so sehr eine Absage an die Wünsche der Eltern, sondern an den Konformitätszwang subkultureller Rangordnungen. Die Prinzipien der Werbung, der Zwang zur Selbstdarstellung sind heute tief in das elementare Verhalten eingedrungen. Wer etwas begehrt, das nach modischen Maßstäben nicht höchstes Glück und Vollkommenheit darstellt, wird gepönt. Der Dichter zeigt, daß seine Maßstäbe nicht in der Mode, sondern im Elementaren, man könnte auch sagen, im Mythischen, liegen.
Im »Feengesang« liegt der Schwerpunkt nicht so sehr auf der Erwählten, sondern auf dem Walten der Feen, deren Gnade sich das erotische Erleben geschuldet weiß. Dabei bleiben die Feen selbst undeutlich und nur in ihrem segensreichen Wirken erkennbar. Dies erscheint mir eine bemerkenswerte Setzung. Nicht die Eroberung, nicht der goldne Treffer, die Anwesenheit eines überpersönlichen Dritten machen das Glück der Liebe aus. Ähnlich ist es mit den vielen Hymnen an den Monat Mai und überhaupt an den Frühling. Der Dichter begreift das Glück nicht als Ergebnis von Leistung oder Cleverness, sondern als Naturvorgang. Alle seine leidenschaftlichen Natur- und Landschaftshymnen führen ins Erotische zurück. Der Ort, die Quelle, der Wasserfall, sie machen das Glück der Liebe möglich. In seinem Lebenslauf sagt der Autor, daß sein Dichten einer bestimmten Topographie folgt, dem Harz mit den geheimen Orten des Glücks.
In einer ganzen Reihe von »Kränzen«, Reigen und Anrufungen gestaltet der Autor die Vielzahl der erotischen Berückungen. Die Summe zieht er in dem Gedicht »Frühjahrs Minnespiel«. Dort wird betont, daß das Besondere das Allgemeine strukturiere, nicht etwa umgekehrt, daß die Jahreszeiten über dem Jahre stünden. In vielen Variationen, mit Beispielen aus der Tier- und Pflanzenwelt, wird immer wieder der Vorrang der Natur gegenüber der Kultur behauptet. Man fragt sich, ob dies wirklich zu einer Jugend mit MP3-Player paßt. Die Botschaft lautet, daß die Jugend das technische Spielzeug so gering schätzt, daß einem Vertrauen in den technischen Fortschritt nicht einmal mehr widersprochen werden braucht. Der Glitzertand wird übergangen. Wesentlich sind die Linde, der Weiße Falter und das Einhorn im Traum.
Eine solche Gestimmtheit hat man von alters her als »panisch« bezeichnet. Pan, der Gott der Hirten und Herden, älter als die Olympier und wurzelnd im Tierreich, steht für eine ganz besondere Korrespondenz des Gewöhnlichen mit dem Besonderen. Er zeigt sich unverhofft, oft erschreckend, was zu dem bekannteren und gerade dem modernen Menschen vertrauteren Wort »Panik« geführt hat. In Titeln wie »Panische Stunde« haben die Dichter immer wieder versucht, die Irritation aus der Tiefe des Mythischen zu beschreiben, der sie höchstes Glück und höchste Einsicht verdanken. Auch in der »Sternbildsonate« gibt es ein Gedicht mit dem Titel »Pan«. Im Gedicht werden alle Argumente aufgezählt, die an der Anwesenheit des Göttlichen zweifeln lassen könnten, aber der Refrain bringt den Gott immer wieder zur Präsenz. Er steht mit seiner »süßen Melodie« für die unausrottbare Gewißheit, daß auch unter verzwicktesten Umständen die Rückkehr ins Elementare möglich ist. Und deshalb ist die betrogene Generation keine verlorene Generation. Die Verse stehen bei aller Zartheit auch für ein großes Selbstbewußtsein. Es speist sich nicht aus den Erwartungen und Kämpfen der Eltern, es sucht einen Neuanfang in der Besinnung auf das, was immer und unter allen Umständen gilt. Es wird immer wieder aus der Verborgenheit treten. Ob wir da von »Vorurteilen« oder von »Maßstäben« sprechen, ist eine andere Sache.