Ich stehe mitten in den Umzugsvorbereitungen nach Thüringen. Fünfundzwanzig Jahre habe ich in der bayerischen Landeshauptstadt gelebt, und dieses Vierteljahrhundert macht mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens aus. Dies mag erklären, daß ich bei aller Ungeduld, ein neues Leben aufzubauen, den Blick melancholisch über Häuser und Straßen schweifen lasse, ehe sie völlig in der Vergangenheit verschwinden. So begann ich vor einigen Monaten die Gedichtsammlung »In den Isarauen«. Aber hierbei schob ich die Abschiedsstimmung hinaus, folgte zunächst der Isar im Oberlauf und befaßte mich mit den Sagen der oberbayerischen Ufer. Schließlich brach ich diese Arbeit ab und veränderte mein Thüringen-Buch, indem ich den ersten Teil spaltete und damit aus vieren fünf Bücher machte. Danach erweiterte ich alle Bücher noch einmal um einen halben Bogen. Nachdem hier wirklich nichts mehr zu tun war, holte ich einige Wochen lang Versäumtes und Liegengebliebenes im Geschäft nach, bis mich auch diese nicht mehr recht ausfüllen konnte. Kurz nach dem Weihnachtsfest erfüllte ich mir einen Jugendtraum und versuchte mich erstmals im Drama, zunächst mit einem sparsam komponierten Einakter, dann mit einem üppigen Minnespiel in drei Aufzügen.
Bei all dem blieb die Mahnung präsent, daß den Münchner Jahren noch literarisch gedacht werden müsse. Ich besorgte mir eine Publikation zur Literaturgeschichte Münchens und ließ die damit verbundenen Orte vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen. Zuletzt schrieb ich ein Gedicht über den Alten Südfriedhof, der sehr viel Prominenz aus der Zeit zwischen den napoleonischen Kriegen und der Reichsgründung versammelt. Dabei mußte ich auch an den Nordfriedhof denken, wo im Jahre 1994 die Urne Wolf von Aichelburgs vergraben wurde.
Es war ein warmer Sommertag, Georg Pfeiffer, über den ich den Dichter einst kennengelernt hatte, war von Freiburg nach München gekommen. Als wir zu der Friedhofskapelle kamen, war dort schon eine ansehnliche Gesellschaft versammelt. Ich sprach dem Bruder des verstorbenen Dichters mein Beileid aus, was dieser zum Anlaß nahm, nachzufragen, ob noch weitere Bücher erscheinen würden und ob mit Honorarzahlungen zu rechnen sei. Dies war schon die rechte Einstimmung. Sodann folgte ein Zeremoniell, wie es gehalten wird, wenn Katholiken eines Heimgegangenen gedenken, der selbst nicht der Kirche angehörte. Ein junger Mann, ich glaube, ein Mönch, wobei ich mich aber nicht erinnern kann, von welchem Orden, war dem Dichter offenbar lange herzlich verbunden gewesen, und er führte diese Kompromiß-Veranstaltung durch, wobei er sich große Mühe gab, sowohl der Kirche als auch dem Verstorbenen gerecht zu werden. Er sagte, er habe es sehr bedauert, daß der Pantheist Aichelburg nicht den katholischen Glauben angenommen habe, wie er selbst sich das gewünscht habe. Nach dieser Feierstunde traten wir an die Grabstatt, und es wurden nun etliche, teils sehr umfangreiche, Reden von allerlei sekulären Gruppen und Grüppchen gehalten. Wie schon zu Lebzeiten wurde Aichelburg von der Siebenbürger Landsmannschaft als ihr Dichter vereinnahmt, außerdem als antikommunistischer Widerstandskämpfer gepriesen, darüberhinaus als Freigeist und Fortschrittskämpfer. Es hätte gerade noch gefehlt, daß man ihn als Vorkämpfer der sexuellen Emanzipation geühmt hätte. Das selbstgefällige Possenspiel der Redner war jedenfalls unerträglich. Pfeiffer bemerkte, daß unter all den Anwesenden eigentlich nur einen gab, der wirklich litt und trauerte, ein junger Mann, der sich aus den kämpfischen Reden entfernt hatte und mit tränennassen Augen zwischen den Gräbern herumtrottete. Wir folgten ihm und sprachen ihn an, es war ein Zahnarzt, der Aichelburgs Gedichte auswendig kannte und ihn ein paar Mal getroffen hatte. Wir verließen den Friedhof und luden den Zahnarzt zum Essen ein.
Bei dem Essen stellte sich heraus, daß der Zahnarzt von den beiden Leinenbänden, in denen ich Aichelburgs Gedichte und Dramen verlegt hatte, nichts wußte und sie nun dankbar erwarb. Es sollten ja eigentlich vier Bände werden, Essays und Erzählungen sollten noch dazukommen, aber der Absatz der ersten zwei Bände war außerst entmutigend. Außerdem waren Aichelburgs Subventionsmöglichkeiten nach den ersten Bänden erschöpft. Durch den Zahnarzt erfuhr ich nun einen Grund für den miserablen Absatz: Aichelburg selbst fand die beiden Bände als wenig repräsentativ für sich und bevorzugte den zeitgleich erschienen Sammelband bei Georg Olms.
Dies widersprach der Ungeduld, die der Dichter ein Jahr früher gezeigt hatte, als sich das Erscheinen der Bände aus technischen Gründen verzögerte. Es war auf einer Lesung in Merzhausen bei Freiburg, die die Eltern von Wolfgang Schühly für mich veranstaltet hatten. Aichelburg äußerte bei dieser Gelegenheit, er sei vor mir als Hochstapler gewarnt worden, was mich natürlich grob verärgerte. Man hätte daraus schlußfolgern müssen, ihm sei es mit dem Erscheinen der Bände höchst eilig, was natürlich unverständlich macht, warum er nach dem Erscheinen jegliche Werbung unterließ.
Bevor die Bände erschienen waren, hatte ich 1992 fast ein ganzes Jahr in die Texte der Ausgabe investiert. Im Gegensatz zu Rolf Schilling, den ich früher verlegt hatte, hielt Aichelburg in seinen literarischen Dingen keinerlei Ordnung, kaum ein Gedicht, daß nicht in mehreren Fassungen oder in gleicher Fassung mit verschiedenen Titeln existierte, viele Titel waren gleichlautend für unterschiedliche Gedichte vergeben, die sonst nichts miteinander gemein hatten. Es gab Schuhkartons mit zahllosen Zetteln, datieren ließ sich kaum etwas. Nachdem Aichelburg bemerkt hatte, daß ich, wie keiner vorher, Interesse an seinen dramatischen Arbeiten hatte, fand er Manuskripte, die teilweise aus den vierziger Jahren stammten und begann auch damit, einige Fragmente zu vollenden. Bei den veröffentlichten Werken war die Unordnung kaum geringer als bei den unveröffentlichten, es gab große Schnittmengen, und es mußte erst einmal eine Übersicht geschaffen werden, um eine Ausgabe vorzubereiten. Während der Satzarbeiten tauchten laufend neue Versionen auf, und ich ließ die Korrekturen schließlich von einer dritten Person machen, da die Menge der Änderungswünsche unendlich schien.
Da ich selbst Dichter bin, konnte es natürlich nicht ausbleiben, daß es zu Meinungsverschiedenheiten über geglückte und weniger geglückte Formen kam. Dies wäre freilich nicht so schlimm gewesen. Entscheidender war, daß der Dichter und ich das Gesamtwerk höchst unterschiedlich gewichteten. Ich sah und sehe den Schaffenshöhepunkt in den vierziger und fünfziger Jahren, gerade in der Zeit der Bedrohung und Unsicherheit. Aichelburg selbst fand gerade diese Dinge klassizistischen Irrtum, viel bedeutender erschienen ihm die Texte, die er als Rentner in Freiburg im Breisgau verfaßt hatte und in denen er unter dem Eindruck der westlichen Toleranz seine Knabenliebe unverhüllt eingestand. Überhupt kamen wir in der Bewertung der aktuellen Politik nicht recht zusammen, und Aichelburg warf Georg Pfeiffer und mir gelegentlich vor, wir seien durch den Totalitarismus in der DDR verdorben und könnten deshalb die Segnungen der westlichen Welt nicht recht erkennen. Natürlich waren unsere Erfahrungen mit diesen Segnungen völlig andere als die des Dichters. Er kannte den Westen ausschließlich als Rentner und hatte niemals im Existenzkampf in diesem System gestanden. Er nutzte Billigflüge zu den Mittelmeerstränden und erlebte nur, wie der Deutsche als Tourist geschätzt und beneidet wird. Auch an Ehrungen fehlte es nicht, auch wenn ihm hätte dämmern müssen, daß diese Ehrungen nicht seiner Literatur, sondern seiner Instrumentalisierung als Vorzeigestück bestimmter politischer Bewegungen galten.
Ich möchte aber hier nicht Aichelburgs späte Irrtümer über sein eigenes Werk darstellen, sondern die Sternstunden, die dieser Dichter hatte. Gleichwohl sei hier noch Szene unseres Kennenlernens eingeschoben.
Im August 1990 veranstaltete ich mit Rolf Schilling und einigen Freunden sowie mit einem Kamerateam der Filmhochschule Potsdam eine Feier auf dem Kirchhof zu Röcken, wo wir uns Anfang der achtziger Jahre immer am Grabe Friedrich Nietzsches getroffen hatten. Heimo Schwilk, damals beim Rheinischen Merkur, reiste auch mit seiner Freundin im Cabrio an. Anlaß der Feier, die dann im Hof meiner Eltern auf dem Arnshaugk fortgesetzt wurde, war das Erscheinen der ersten sieben Bände der Rolf-Schilling-Ausgabe, an der ich sechs Jahre gearbeitet hatte. Bei dieser Feier lernte ich unter anderen Georg Pfeiffer kennen, der wenig später in Freiburg zu studieren begann. Pfeiffer war ein Lyrik-Enthusiast und kannte zahllose Verse auswendig. Außerdem setzte er literarisch die Schwergewichte ählich wie ich, besaß große Ausdauer beim Wandern in der freien Natur und einen nonkonformistischen Blick auf die Zeit und ihre Tendenzen. Nachdem die Entfernung zwischen München und Freiburg auch mit nicht geringen Fahrtkosten verbunden war, waren natürlich Freifahrten sehr willkommen. Pfeiffer studierte zunächst osteuropäische Geschichte und lernte dabei einen rechten Aktivisten namens Heuberger kennen, der seinerseits gute Kontakte zu Vertriebenen und Spätaussiedlern besaß. Nun ergab es sich, daß die Stadt Freiburg anäßlich eines Jubiläums jenes rumänischen Schauprozesses »gegen die deutsche Schriftstellergruppe« eine Art Gedenk- und Aufarbeitungsseminar veranstaltete, wozu auch Aichelburg als einer der Höchstverurteilten geladen war. Heuberger besorgte es, daß ich von der Stadt Freiburg eingeladen wurde, die Bewirtung war vortrefflich und überdies sehr reichlich, da ich oft mit Pfeiffer als einziger zum Essen erschien, wo die anderen in politischen Debatten das Essen vergaßen.
Bevor ich mich zu weiterer Erinnerungsschwelgerei hinreißen lasse, sei das Wesentliche gesagt: Als ich mit Pfeiffer auf der Veranstaltung mit gewisser Verspätung erschien, von deren Teilnehmern ich nie einen je zuvor gesehen hatte, wußte ich sofort, wer der Dichter Aichelburg sei, der, im übrigen, auch der einzige Dichter in dieser Menschenansammlung war. Es war das jungenhafte verschmitzte Gesicht des Greises, seine dialektisch anmutende Gestik, sein vergewissernder Blick in die Runde und schon auch mal nach hinten, ja, dies war der Dichter.
Dies erscheint mir noch heute als Schlüsselerlebnis. Mehr als jedes einzelne lterarische Werk, mehr als seine Urteile in Gesprächen und Briefen, die wir zu zahllosen wechselten, hat mich diese erste Begegnung überzeugt, daß Aichelburg ganz und unbedingt ein Dichter sei.
Zu seinem Leben seien hier ein paar Stichpunkte eingefügt. Er wurde 1912 in Pola auf Istrien als Sohn des Fregattenkapitäns Arnold von Aichelburg geboren. Nach der Niederlage der Mittelmächte wurde die österreichische Flotte aufgelöst, und Arnold von Aichelburg ging daraufhin in rumänische Dienste. Die Familie ließ sich in Hermannstadt in Siebenbürgen nieder. Von 1928 bis 1934 studierte Aichelburg in Klausenburg und Dijon Germanistik und Romanistik, unternahm dann Reisen durch Deutschland, Frankreich, Italien, die Schweiz und England. Bei Kriegsausbruch kehrte er nach Rumänien zurück. Den Wechsel vom Hakenkreuz zum Roten Stern versäumte er, wie er mir einmal schilderte, mit Freunden in einer Berghütte. Der Deportation nach Sibirien entging er durch ein abenteuerliches Lavieren, das er in seiner Erzähung »Die innere Uhr« schildert. Ich habe diese Erzählung jüngst im Jahrbuch für Natur und Mythos wieder aufgelegt. Vom kommunistischen Regime wiederholt verhaftet und eingekerkert, wurde er 1959 im »Prozeß gegen die deutsche Schriftstellergruppe« zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach einer Generalamnestie für politische Häftlinge 1964 konnte er einige Bücher publizieren und fühlte sich dabei zunehmend vom Regime benutzt, mit einem unpolitischen Werk Freiheit und Tolerenz vorzugaukeln. Nachdem für seinen siebzigsten Geburtstag eine große Propagandaveranstaltung angekündigt war, reiste er 1980 nach Deutschland aus.
Im Gegensatz zum wechselvollen Schicksal des Autors zeigt sich das Werk in einer hohen Ausgeglichenheit und klassischen Harmonie, und dies gerade in den Zeiten der höchsten Bedrängnis. Dies ist das Kennzeichen des echten Dichters. Dichter ist nicht, wer auf die Zerstörung der Welt mit der Zerstörung der Form reagiert. Dichtung ist immer ein Festhalten am Refugium der klassischen Gesetze, ein Lebendigwerden-Lassen der Suche nach Vollkommenheit, ein Ausharren in Würde und Glauben.
Aichelburg hat mancherlei gedacht und geschrieben, doch das wesentliche für mich sind und bleiben, seine Theaterstücke, vor allem die in Versen. Sie wurden als epigonal gescholten, und in der Tat mag man an Grillparzer und Hofmannsthal denken. Aber es ist nicht des Dichters Amt, die Literaturgeschichte in einer Weise fortzuschreiben, daß sich die Germanisten in ihren vermeintlichen Entwicklungsgesetzen bestätigt sehen. In einem literarischen Werk, und ganz besonders im dramatischen, kommt es vor allem auf eine Haltung an.
Dieser kleine Mann mit seinem schwijkhaften Lächeln und einer Dialektik, die an den jüdischen Witz gemahnt, zeigte in seinen Dramen eine »Mannesmut vor Fürstenthronen«, die Arndt und Schiller Ehre machten. Träger dieses Mannesmutes sind Frauen, starke Frauen, vor allem die Spartanerkönigin Hellena. Prinz Paris hat sie aus dem Kampfgetümmel von Troia auf eine einsame Insel bringen lassen. Nachdem von dort seit langem keine Nachricht mehr eintrifft, wird der Diener immer dreister und meint, die Frau möge ihrem aristokratischem Anspruch entsagen und die seine werden. Sie weist ihn zurecht:
Sieh mir ins Auge! Ich bin Königin.
Du weißt es. Du wirst meinem Wink gehorchen.
Dies sind nicht nur eherne Verse, dies sind unbedingte Gewißheiten. Die Aristokratie besteht so lange, wie sie selbst an sich glaubt. Dies schreibt jemand, der erlebt hat, wie tausendjährige Stammbäume von Maschinengewehrsalven ausgelöscht wurden. Seine Königin ist nicht eine Träumerin, die die Realität ignoriert. Sie weiß, daß ihr die Freiheit zum Tode bleibt, wenn jemand an ihre Würde rührt, und sie macht auch davon Gebrauch, als ihr die Möglichkeit der Rettung verborgen bleibt. Und sie findet heim, als die Sterbende ihr wirklicher Gatte in den Arm nimmt, sie verfließt in das Ewige des Himmels und des Meeres in der Gewißheit des Unauslöschlichen, das gerade die Entsagung zum Leuchten bringt. Dies ist ein Glaubenssatz, einer, der groß bleibt, solange Menschen groß glauben. Solche führt Aichelburg vor.
Ich will nicht die einzelnen Dramen schildern, die ich alle für groß in der Konzeption und in der Ausführung halte. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß in allen dramatischen Stücken zwei Dinge auffallen: die Unbedingtheit der Haltung und die Größe des Glaubens. Daraus resultiert die Form. Wo solche Haltung auftritt, da zeigt auch das Bühnenbild, die Nebenfiguren, die Sätze und dichterischen Bilder Haltung. Da zerflattert nichts, da gibt es keine Zote und keine Albernheit, da regiert der heilige Ernst, der den Dichter ausmacht. Dieser heilige Ernst ist keine greisenhafte Attitüde und kein museales Stelzen, im Gegenteil, er ist die Voraussetzung für echten Humor. Denn die Komödie hat ebenso wie die Tragödie den Adel der Gesittung, den Kodex der Ehre und die Festigkeit des Glaubens zur Voraussetzung, so wie der Pilz die Buche oder die Eiche, der Chor den Tempel von Marmor. Die Harlekine der Moderne könnten nicht sein ohne den Ernst der abendländischen Jahrhunderte. Das Dramatische als besonderes Wechselspiel des Dauernden mit dem Flüchtigen, des Gesetzes mit dem Gefühl, der Sitte mit dem Abenteuer ist ganz besonders not in einer Zeit, die diese Ur-Polarität aus dem Auge verloren hat.
Ich hatte einen Freund, Intendant eines großen deutschen Theaters, noch zu Lebzeiten Aichelburgs gebeten, zu prüfen, ob nicht irgendetwas von diesen Dramen einmal aufgeführt werden könne. Schließlich werde ja heute alles mögliche gemacht, auch Dinge, von denen es immer geheißen habe, sie seien nicht bühnentauglich. Leider hat er mich den Worten beschieden, dies alles sei »eher literarisch, also nichts fürs Theater«.
Ich bin seit meiner Jugend in der DDR nur sehr selten im Theater gewesen, und ich kenne Shakespeare, Schiller, Kleist, Grabbe und vieles andere nur als Lesedramen. Einige moderne Aufführungen mit viel Video-Klamauk und wenig Text konnte ich in der Tat als wenig »literarisch« erleben. Von Haltung kann auch nicht gesprochen werden, wenn die Szene in einer Tiefgarage spielt und die Gesten vor allem Öffnen der Autotür und Zuknallen oder selbiges mit der Kofferraumklappe darstellen. Dies Art von Kunst zeigt eine ungeheure Volksverachtung. Man meint, dem Publikum zur Unterhaltung keine Literatur mehr zumuten zu können, man setzt auf grelle Effekte. Ein Freund erzählte mir von einer Faust-Inszenierung, in der sich Faust und Mephisto homosexuell vergnügten. Abgesehn davon, daß ich in Goethes Text nicht den geringsten Anlaß zu solche einer Interpretation finden kann, besteht keine Notwendigkeit, das Publikum über derlei Dinge im Theater auszuklären, das wird schon anderenorts hinreichend besorgt. Wenn das Theater wieder Würde finden soll und auch die Berechtigung, öffentliche Mittel zu verschlingen, so muß es zu einem Kulturauftrag zurückfinden, und dies ist vor allem die Re-Literarisierung. Das Theater ist das jedermann zugängliche Erleben der Hoheit gebundener Sprache und, ich sagte es bereits, der Hoheit von Haltung und Glauben.
Ich habe zwei Mal den Arbeitskreis für deutsche Dichtung in Weikersheim besucht, eine Versammlung von älteren Herrschaften, die einst der bündischen Jugend verbunden waren. Beim ersten Mal war auch Wolf von Aichelburg dabei, beim zweiten Mal sprach ich mit Rolf Schilling und Georg Pfeiffer »Hellena Heimkehr« in verteilten Rollen. Ich glaube, dies war eine würdigere Totenfeier für den Dichter als die Urnenbeisetzung zu München.