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  Uwe Lammla

Über das Pathetische

Das Wort Pathos hat in unserer Zeit keinen guten Klang, mancher denkt reflexartig an die Pathologie und zerstückelte Leichen. Der griechische Wortstamm ist in der Tat derselbe, zu deutsch Leiden. Auch bei diesem Wort dominiert die medizinische Vorstellung, denn ein Zahnleiden kennt wohl jeder. Für die Literatur sind drei Aspekte des Wortes von Bedeutung. Das ist zum einen Leiden im Gegensatz zum Wohlergehen, dann das Leiden im Gegensatz zum Tun, also die Passiviät, zum dritten die Leidenschaft oder Passion, die wir in Abstufungen der Intensität auch Schwäche, Abhängigkeit oder Sucht nennen. Daß die drei Bedeutungen aufs engste miteinander verbunden sind und jedes reale Auftreten immer eine weitere Komponente mit entschließt, ist geläufig. Gleichwohl erscheint mir diese Akzentuierung für das Verständnis von literarischem Pathos wichtig.
In der antiken Rhetorik steht steht Pathos für den überwältigenden Affekt. Bereits hier wird zwischen dem Erhabenen und dem Pompösen im Sinn von angemessenem und unangemessem Pathos unterschieden. Longius meint, die Angemessenheit könne nur das Genie des Sprechers garantieren. Im 18. Jahrhundert wurden seine Schriften wiederentdeckt. So ist für Schiller das Pathetische die vornehmste ästhetische Figuration. Im Widerstand gegen das Leiden, gegen die Übermacht der Natur, die gerade auf der Bühne mit überwältigender Gewalt gezeigt werden müsse, beweise ich die Freiheit des Menschen. Dies ist ein Freiheitsbegriff, der sich am Widerstand bemißt, nicht etwa am Wohlbehagen. Somit ist der Widerstand selbst Leiden und hat weiteres zur Folge. Die für ihren Freiheitsinn sprichwörtlichen Griechen schätzten als höchste Kunst die Tragödie.
In diesem Kontext verwundert es nicht, daß die heutige Literaturkritk dieses Attribut abschätzig gebraucht und geradezu ein Totschlagargument daraus geworden ist. Schon die Wahl eines Stoffes, der mit Leidenschaften verbunden sein könnte, gilt als Manko. Da fragt man sich freilich, warum sich jemand der Mühsal einer schlecht oder gar nicht bezahlten literarischen Mühsal unterziehen sollte, wenn ihm die Leidenschaft schon im Ansatz verwehrt ist.
Zum Glück ist es nicht so. Nicht jeder Pathos wird als solcher gepönt, stimmt die Richtung, spricht man nicht von »Pathos«, sondern von »Sorge« oder »innerer Not« z.B. wenn zur »Zivilcourage gegen Rechts« aufgefordert wird. Wenn wir Schillers Freiheitsbegriff auf solche Pamphlete anwenden, ist die Freiheit gleich null, denn hier gibt es nicht nur keine Widerstände, sondern staatliche Zuschüsse und Vitaminspritzen für die Karriere.
Dies ist natürlich nicht mit »zum Glück« gemeint. Es gibt allerlei Felder, wo Pathos erlaubt ist. Lasse ich mal die linken Domänen wie Minderheiten-Emamzipation u.ä. weg, so bleiben noch einige Räume, die als harmlos eingestuft werden und deshalb auch mal einen pathetischen Stoff enthalten dürfen. Wenn natürlich zum Stoff auch adäquate Gestaltungsmittel kommen, so ist es mit der Toleranz vorbei. Ich tat bereits in einem längeren Aufsatz dar, daß der Reim im deutschen Gedicht verboten ist. Hier geht es mir vor allem darum zu zeigen, daß der Pathos-Verdacht auf den Niedergang des Theaters und seine Ent-Literarisierung zielt.
Eine zentrale These Schillers lautet, daß die Bühnenkunst nur dann einen moralischen Wert darstellen kann, wenn sie frei ist. Frei heißt: einzig begrenzt durch ihr immanentes Gesetz, und das lautet Können. Das Können des Dichters zeigt sich in zweierlei Hinsicht, zum einen in der Wahl eines Gegenstandes, der die Aufmerksamkeit des Lesers, Hörers oder Zuschauers fesseln kann, zum zweiten in einer Formung, die das Publikum zwingt, diesem Gegenstande Lust abzugewinnen, die es ihm ohne diese Kunst gar nicht zugetraut hätte. Dies heißt, daß, hinreichendes Können vorausgesetzt, sich letztlich jeder Gegenstand eignet, zum fesselnden Erlebnis zu werden. Wenn aber das Können des Dichters so weit gediehen ist, daß ihm jeder Gegenstand tauge, ein fesselndes Gespinst zu entfalten, so wird man mit Recht vom Dichter verlangen, daß er moralische Kriterien bei der Wahl seines Gegenstandes nutzt und nicht der egomanen Marotte frönt, zu zeigen, daß er jedem Gegenstande gewachsen sei.
Freie Kunst, das heißt zunächst erst einmal: es gibt keine U-Kunst und keine E-Kunst. Das Publikum ist so gut oder schlecht wie die Stücke, die ihm im allgemeinen vorgesetzt werden. Bemühungen, das Publikum in die Handlung einzubeziehen, gehen von der abwegigen Vorstellung aus, das Publikum nehme eine völlig passive Rolle ein. Dies ist aber nur dann so, wenn man wie bei manchen Büttenreden getrost die meiste Zeit abschalten kann, da man auf Pointen durch ensprechende akustische Signale hingewiesen wird. Immer wieder ist dann zu beobachten, wie sich eine nicht geringe Zahl der Zuschauer bei Nachbarn erkundigt, was sie denn nun wieder einmal verpaßt hätten. In einem guten Stück ergibt sich aber die Lust nicht aus den Reizen einzelner Passagen oder Sätze, sondern aus dem Gesamtzusammenhang, den nur der erfaßt, wer vom ersten bis zum letzten Vers aufmerksam folgt. Ein solcher Anspruch mag wenige abschrecken, die Mehrheit wird jedoch durch solch einen Anspruch trainiert und für das erfolgreiche Training mit einem gesteigerten Unterhaltungswert belohnt.
Die Bemühungen zur Publikumseinbeziehung schrecken nicht die Leute ab, die im Theater ohnehin nichts verloren haben, sondern gerade die feineren Geister. Sie sind im allgemeinen von bescheidenem Wesen und schätzen es ganz und gar nicht, von Scheinwerfern angestrahlt zu werden. Was mancher als unmodern, verklemmt oder unreif denunziert, ist die eigentliche Basis der Anstalt Theater. Die Leute können an einem Hofleben, an einem Kriegsgefecht, an einer Liebes- oder Eifersuchsszene teilnehmen, ohne dabei die eigene Bloßstellung befürchten zu müssen. Dabei sind sie wiederum im Gegensatz zum Film und neueren Medien nicht völlig angeschottet von der Aktion. Sie wissen, daß die Schauspieler ihre Aufmerksamkeit und ihr Minenspiel durchaus mitbekommen und daß die Länge des Applauses nicht der einzige Indikator für eine gelungene Aufführung ist. Auch die Schauspieler reagieren auf die Publikumgunst oder Ungunst, und dieses subtile Spiel ist das Wesen echter Kultur.
Das Theater ist entartet, wenn die Schauspieler aus einem miserablen und inhaltsarmen Text Dinge hervorkitzeln sollen, die auf dem Papier nicht zu finden sind. Wenn Sie vom Interpretatoren zum Schöpfer werden sollen. Solches können Schauspieler nicht leisten, und wenn sie auf solche Künste getrimmt werden, verkümmert der eigentliche Beruf. Wenn man das heutige Theater kritisiert, dann nicht nur die Form, die wir schon als Können der Dichter entlarvt haben, sondern zunächst einmal die Wahl der Stoffe. Das Theater versteht sich selbst als Nischen-Kultur. Deshalb vermeidet es all jene Stoffe, die Film und Fernsehen gestalten. Es meint mit diesen Medien ohnehin nicht konkurrieren zu können. Damit trägt es Mitverantwortung dafür, daß z. B. die historische Bildung der Jugend den Klischees von Hollywood folgt.
Der heute beliebteste Vorwurf an einen Bühnentext lautet, er sei pathetisch. Da muß man doch herzhaft lachen. Theater ist der Versuch mit einem gesprochenen Text eine größere Menschenansammlung zu begeistern. Eine trockene, gewisserweise rationalistische Darbietung verbietet sich von selbst. Ohne die emotionale Übersteigerung, die die Griechen Pathos nannten, wäre kein Mensch bereit, sein sauer verdientes Geld in Eintrittskarten zu investieren. Ein leisetreterisches Theater braucht niemand. Die große Zeit des Theaters war die eines leidenschaftlichen Publikums.
Pathos wird heute gleichgesetzt mit unkritischer Haltung, Stechschritt, Appell. Das geht bis zum Völkermord. Zwei Fehler liegen dieser Verzerrung zugrunde, zum einen die Unterschätzung des Aktiven, zum anderen ein Menschenbild, das grüblerische und impotente Intellektuelle der Allgemeinheit vorschreiben wollen.
Pathos ist Aktion, was sich im deutschen Wort Begeisterung ausdrückt. Das heißt, ein Geist wird in gewisser Weise leibhaft aufgenommen. Negativ formuliert lautet dieses Phänomen Besessenheit oder moderner Fan. Der Unterschied ist leicht auszumachen. Der Besessene ist wehrlos, er ist dem Geist, der ihn besitzt, ausgeliefert. Dies ist bei der Begeisterung anders. Hier gestaltet der Begeisterte mit. Er nimmt Geist auf und macht ihn mit eigenem Geist zu etwas Eigenen. Aus diesem Grunde vermehren die Begeisterten den Geist, was Kettenreaktionen führen kann, die man Begeistungsstürme nennt. Der Umstand, daß man mit rhetorischen Tricks solche Begeistungsstürme auslösen kann, das bekannteste Beispiel ist Goebbels Rede im Berliner Sportpalast, besagt nichts über die echte Begeisterung. Denn bei der falschen Begeisterung folgt recht bald der Katzenjammer. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Schneeballsystem von Geldanlage und Lebensversicherung, auf das ich in meinen frühen Münchner Jahren einmal hereinfiel. Ich war arbeitslos und hatte genügend Zeit, eine Veranstaltung zu besuchen, die behauptete, die Kunst des großen Geldverdienens zu lehren. Seriös erschien mir die Zusicherung, daß jeder die zwar nicht unerhebliche Teilnehmergebühr anstandslos zurückerhielte, der unmittelbar nach der Veranstaltung erklärte, er sei nicht überzeugt und wolle auf diese Verdienstmöglichkeiten verzichten. Um es kurz zu machen, ich habe zwei Tage später darauf verzichtet und das Geld in den Wind geschrieben.
Bei der echten Begeisterung kommt es nicht zum Katzenjammer. Eher zur Sucht. Aber warum ist dieses Wort so negativ belegt? Weil die modernen Süchte nichts leisten außer ihr eigenes Fortbestehen. Jeder Drogenabhängige weiß, daß die Phase gesteigerten Glücks eine sehr kurze ist, auf die ein langes Unglück folgt. Dies ist bei geistigen Süchten anders. Sie verlangen zwar auch eine mähliche Steigerung der Dosis, aber dies nicht, um einen erträglichen Zustand beizubehalten, sondern um ihn in der gleichen Weise zu steigern. Und das beste dabei: man weiß, man kommt nicht irgendwo zu einer vernagelten Tür, sondern man weiß, daß der Geist potentiell unendlich ist.
Ich hatte als Dichter noch nie beim Pathos ein schlechtes Gewissen. Die Redewendung »Den Stier bei den Hörnern packen« verwende ich gern. Wenn jemand mir »Pathos« vorwirft, so weiß ich es ist entweder der Feind oder ein armer Wicht, der keine eigene Stimme hat. Die Sicherheit, daß mein Pathos angemessen ist, beziehe ich aus der Bereitschaft zum Opfer. Denn nur der Dichter, der für seine Sache einzustehen bereit ist mit Leib und Leben, darf pathetisch reden. Der muß es allerdings auch.
Das real existierende Theater kommt freilich ohne Pathos aus. Hier muß auch nicht ein längerer Text vermittelt werden. Die Gegenwartsstücke haben wenig Text und bieten damit viel Raum für Pantomime, Videoanimationen, Improvisation und Klamauk aller Art. Es fehlen eigentlich nur noch die Werbeeinblendungen, dann wüßten mir endlich, warum Steuermillionen verschlungen werden.