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Das Reimgedicht

Ein modernes Tabu

I

Im letzten Sommer sandte ich einem Verlag, der von sich behauptete, sich besonders um die Poesie zu bemühen, ein paar Gedichte zur Prüfung und versicherte bei dieser Gelegenheit, ich wolle den Kostenzuschuß, von dem in der Autorenwerbung gesprochen wurde, gern tragen. Es handelte sich bei diesem Verlag offenbar um einen, der sich tatsächlich um die Dichtung bemüht. Jedenfalls wurde ich nicht etwa, wie üblich, mit Schweigen übergangen, sondern angerufen und regelrecht beschimpft. Meine Bereitschaft, den geforderten Betrag zu entrichten, wurde als gemeine Bestechung bezeichnet und überhaupt sei die Zusendung die reinste Unverschämtheit. Was war geschehen? Der Inhalt der Gedichte war völlig harmlos, ein paar Naturbeobachtungen, eine Romanze im mediterrannen Sujet, eine Ballade mit Waldgeistern und dergleichen mehr. Es ging allein um die Form. Die Gedichte waren gereimt und im regelmäßigen Versmaß, dies war die Zumutung sondergleichen, denn man sei ja ein moderner Verlag.
Der Reim hat im ernsthaften Gedicht nichts zu suchen, allenfalls für Mundart, Humor und Gebrauchslyrik zwischen Schlager und Herzschmerz ist er erlaubt. Dies scheint ein eiserner Grundsatz der deutschen Verlagsbranche zu sein, die überdies bei jeder Gelegenheit beklagt, Lyrik fände heute ohnehin kaum noch ein Publikum und selbst bekannte Autoren müßten sich mit minimalen Auflagen zufrieden geben. Dabei scheint offenbar der Schluß verboten, die mangelnde Akzeptanz könne mit den verlegten Texten zusammenhängen, und es wäre an der Zeit, etwas anderes zu probieren. Immer wieder, wenn ich vor einem literarisch wenig gebildetem Publikum vorlese, erfahre ich Reaktionen großer Überraschung: man habe etwas gänzlich Unverständliches erwartet und sei nun verblüfft, daß von interessanten Dingen die Rede sei.
Natürlich soll hier nicht behauptet werden, es ginge nur um den Reim an sich, um ein Formspiel, um eine Grille. Die Form hat etwas mit den Inhalten zu tun. Wer so dichtet, wie ich es tue, der zeigt, daß er an die Traditionen anknüpft, die bis zum ersten Weltkrieg selbstverständlich waren und dann, in mehreren Schüben, schrittweise abgebaut und negiert wurden. Wer also daherkommt, als gäbe es für ihn diese Negationen nicht, der stellt sich moralisch und politisch außerhalb der Moderne. Also ist er ein Spinner oder ein übler Provokateur.
Als ich in den siebziger Jahren eine damals neu erschienen Verslehre las, wurden nicht nur die antiken und die italienischen Formen erklärt, es wurde auch behauptet, die freien Rhythmen könnten nur deshalb wirken, weil dem Publikum die klassischen Maße vertraut seien und sich mit der gezielten Durchbrechung besondere Wirkungen erzielen ließen. Wenn jener Autor damals recht hatte, so muß man feststellen, daß heute die klassischen Maße keineswegs mehr allgemein vertraut sind und insofern nicht mit der Differenz gearbeitet werden kann. Im Gegenteil: es ist eine völlige Traditionslosigkeit eingetreten. Im Internet kann man sehr gut beobachten, wie Dilettanten Gedichte zu schreiben versuchen. Sie reimen, solange sie können, und wenn sie keinen Reim finden, so lassen sie es eben. Es fehlen ihnen jegliche Maßstäbe und Vorbilder. Als ich vor dreißig Jahren zu dichten begann, habe ich die Antiquariate abgeklappert und mir alles an Dichtung verschafft, was ich zahlen oder leihen konnte. Manche Gedichtbücher schrieb ich komplett mit der Hand, später mit der Schreibmaschine ab. Es ist also kein Zufall, daß ich gelernt habe, wie man Strukturprobleme im Vers bewältigt.
Übrigens kam mir niemals der Gedanke, mit der Dichtung könne in nennenswerter Weise Geld verdient werden. Allerdings war ich schon früh darauf erpicht, die Gedichte in schönen Büchern zu finden. Im Laufe der Zeit habe ich da allerlei Konzessionen und Abstriche gemacht, vor allem ab dem Zeitpunkt, da mir bewußt wurde, daß in meiner Dichtung eine Botschaft liegt und daß es also nicht allein um die Form geht. Aber davon später.

II

Die Verzweckung der Literatur beginnt bereits im 19. Jahrhundert. Besonders in den USA müssen sich auch die begabtesten Autoren auf dem Markt behaupten, stehen im Existenzkampf wie jeder Handwerker und jeder Händler. In Europa fällt mir in solcher Situation eigentlich nur Dostojewski ein, gerade in Deutschland lebten Dichter und Schriftsteller in einer ganz anderen Lebenswelt. Diese soll hier nicht als paradiesisch verklärt werden. Eduard Mörike hätte sich bestimmt holderes vorstellen können als das Mädchenpensionat, in dem er arbeitete, und wir kennen ja seinen Traum von Orplid. Aber die Situation all der Geister, die sich als Bibliothekare, Prinzenerzieher und Beamte verdingten, ist eine grundsätzlich andere als die des kapitalistischen Marktes. Ihre Freiheit war personal beschränkt, durch Intelligenz, Langmut und Laune des Dienstherrn, keineswegs durch ein überpersönliches System, das kein Erbarmen kennt. Wurden die Differenzen zu groß, konnte er wechseln und hoffen, mit andersgearteten Grillen und Zumutungen besser zurecht zu kommen. Natürlich sind die Briefe der Dichter voller Klagen, daß sie überhaupt etwas anderes tun müssen, als ihrer göttlichen Begabung zu frönen. Gleichwohl haben diese Zwänge nicht annähernd die Brutalität, die der Marktwirtschaft innewohnt.
Abgesehen von der Alternative Person und System möchte ich auch noch die vom Einzelnen und der Masse ins Spiel bringen. Ein Fürst ist selten ein Genie und auch nicht sehr oft ein Volltrottel. Ebenso ist er meistens kein Heiland, aber auch kein Tyrann. Eher wird er sich irgendwo in der Mitte austarieren, so wie die meisten anderen Menschen auch. Etwas ganz anderes ist jene Masse, die durch Markt zur Macht gelangt. Ihre Ansichten, ihr Geschmack, ihre Toleranz, ihre Geduld und Aufgeschlossenheit sind keineswegs der Durchschnitt, sondern der kleinste gemeinsame Nenner.
Mit dem ersten Weltkrieg erreicht die Marktwirtschaft auch das literarische Deutschland. Zunächst ist ein Aufstieg des Romans festzustellen, der früher nach Poesie und Drama eine untergeordnete Rolle spielte. Erst der Gesellschaftsroman, dann zerfällt das Genre in Spezialkategorien: Kriminalroman, Liebesroman, Gruselgeschichte, science fiction und Fantasy. Das Drama versuchte man im Dritten Reich noch mit den Thingspielen aufzuwerten, bis man diese zugusten der neuen Medien Film und Rundfunk aufgab. In der Folge entstanden immer neuere Medien, die den Abstand zwischen Künstler und Publikum immer weiter vergrößerten.
In der tradierten Kultur gibt es nicht hier Produzenten und dort Konsumenten. Jeder ist dies in gleicher Weise, nach Maßgabe seines Intellekts, seiner Begabung und seinem Fleiß. Und dieses In-gleicher-Weise-Sein ermöglicht auch ein Maximum an Selbsterkenntnis und damit ein selbstverständliches Einreihen in die Hierarchie der Natur. Kurzum, in einer wahren Kultur gibt es keine Medien, das heißt, es kann auch niemand sein Geld damit verdienen. Das Kapital ist notwendiger Feind der Kultur.
Vor ein paar Wochen fand ich im Netz eine sehr interessante Volkslied-Sammung. Der Betreiber der Seite war ein echter Sammler, er suchte nach Vollständigkeit, Inhalt und Ideologie interessierten ihn nicht. Nun stammte von dem Material, wie zu erwarten, besonders viel aus der Romantik, aber auch folgende Zeiten waren gut vertreten, schließlich erscheint im Nationalsozialismus besonders viel volkstümliches Liedgut und auch das erste kommunistische Jahrzehnt ist nicht arm. Dann aber das totale Aus. Die Demokratie hat kein Volkslied.
Johann Gottfried von Herder war der Pionier der Dichtung, die wir heute als deutsch und klassisch verstehen. Ohne ihn sind Goethe und Schiller nicht vorstellbar, aber auch nicht Eichendorff, Mörike, Meyer, George und viele andere. Sein Ansatz war die Entdeckung des Volkslieds. Hier fand er den unmittelbaren lyrischen Genius, ohne den es keine echte Dichtung gibt. Wenn das Volkslied stirbt, kann die Dichtung nicht lang auf sich warten lassen.
Die Dichter, die es noch oder schon wieder gibt, wollen keine Literaturpreise und keine wissenschaftlichen Arbeiten. Sie brauchen nicht einmal Verlage, denn die Schriftlichkeit ist im Grunde auch eine Krücke. Johannes R. Becher wünschte sich einmal, als »namenloses Lied im Volk« zu gehn. Dies gelingt heute nur die Schlagerdichtern. Dies sind aber gerade keine Volkslieder, sondern Ausgeburten der Unterhaltungs-Industrie.
Um auf die Dichter zurückzukommen, sie wollen, daß ihre Verse zitiert werden, aus dem Gedächtnis, auf der Wanderschaft, meinethalben im Vollrausch, sie wollen vertont und gesungen sein, sie wollen das, was dem Leben entstammt, hingeben an das Leben. Das ist keine Grille und kein Geniekult, das ist einfach zutiefst menschlich.
Kultur und Tradition sind immer auf Dauer ausgerichtet, und gerade dies ist den Marktmechanismen zuwider. Sie wollen Voraussetzungslosigkeit, um heute mit dem einem Produkt und morgen mit einem anderen. Der ideale Konsument ist grenzenlos gelangweilt und deshalb leicht zu überraschen. Um die Voraussetzungslosigkeit zu schaffen, bediehnt sich der Markt der Scharlatane und der Dilettanten. Die ersteren frönen ihrem Egozentrismus und finden es dabei schick, die Tradition anzupöbeln und hermetischen Theorien anzuhängen, die das dumme Volk nicht versteht. Die Dilettanten fürchten den Reim, weil er im Ohr des Zuhörers allzuleicht das Unvermögen des Dichters verrät, der Instinkt ist bei der Form viel sicherer als im Inhalt. Also paßte es den Dilettanten vortrefflich, daß eine reimlose Dichtung gefordert wurde. In einem Literaturforum sah ich jüngst für Lyrik folgende drei Kategorien: 1. experimentell, 2. Haiku, 3. Mundart. Goethe hätte hier keine Chance gehabt, aber natürlich ist er auch unerwünscht, wo man sich am Pulsschlag der Zeit weiß.
Nun gibt es ja mancherlei Opposition zum modernen Leben. Es gibt Leute die wandern, den Kult unserer Ahnen erforschen, Alternativen suchen, ein neues Naturgefühl, eine veränderte Wahrnehmung. Doch an die Dichtung traut man sich nicht. Offenbar meint man, es lohne nicht, in eine Sache zu investieren, die ohnehin keine Chance hat.
Ich entdecke hier eine unerträgliche Kleingläubigkeit. Das Zeitalter des Fernsehers endet, wenn man den Stecker aus der Dose zieht. Die Dichtung hat heute nicht mehr oder weniger Chancen als im Mittelalter, entweder sie trifft den Ton des Volkes oder sie trifft ihn nicht. Wie soll man das feststellen? Ganz einfach: Laut sprechen, und wer Ohren hat der höre. Wenn die Verse eine Saite in unserer Seele zum Klingen bringen, dann erhöhe man die Dosis, bis ein Orchester spielt. Wahre Dichtung ist Glauben. Deshalb ist das Problem der Dichtung zuerst ein religiöses Problem.

III

Unsere Zeit hat keinen Mangel an klugen Köpfen. Unsere Zeit hat Mangeln an Männern, die für ihre Sache mit Leib und Leben einstehen. Die wie Luther sagen: Hier stehe ich und kann nicht anders. Die große Kunst unserer Zeit sind Ausreden, die über den Mangel an Mut hinwegtäuschen sollen. Wissen ist nichts als eitles Gehabe. Erst durch den Mut wird es zum Glauben. Und der Glaube kann Berge versetzen.
Eine besonders beliebte Ausrede behauptet, die Technik sei unser Schicksal und so seien die im vorigen Kapitel beklagten Verzerrungen in gewisser Weise naturgesetzlich. Dies ist absoluter Blödsinn. Ob die Menschheit ein Schicksal hat, wissen wir nicht, vielleicht kommt bald ein großerer Komet und löscht uns für Jahrzehnte die Sonne aus. Fest steht, daß die vielen Prophezeiungen, die im 20. Jahrhundert Konjunktur hatten, egal ob optimistisch oder pessimistisch, allesamt falsch waren. Um 1900 meinte man, die Menschheit sei aufgeklärt und finstere Epochen lägen hinter ihr, dann kamen die schrecklichsten Kriege. Um 1950 meinte man, ein Atomkrieg sei nur eine Frage der Zeit, bis heute ist er nicht eingetreten. Nach der Mondlandung meinte man, binnen einer Generation würden die Kinder die Schulferien auf dem Mars verbringen, heute scheint selbst ein Mondflug unfinanzierbar. Dann sollte das Öl versiegen und die Rohstoffe knapp werden, man fand neue Quellen. Schließlich hieß es, der Mensch gehe an seinem eigenen Dreck zugrunde, bislang ist auch dies nicht eingetreten. Kurzum, fortwährend wähnt sich alles am Scheitelpunkt der Weltgeschichte, um schließlich die Erfahrung zu machen, das die wesentlichen Dinge der Welt nicht in unserem kleinen Erdenleben entschieden werden. Die Fixierung auf die persönliche Lebensspanne ist das eigentliche der Moderne, das heißt, die Verdrängung der Toten und Unborenen, und, um es geradeaus zu sagen, der Betrug an ihnen. Religion ist die Kraft, sich nicht über Gebühr wichtig zu nehmen und sich in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Sie ist das Gegenteil der modernen Euphorie und der modernen Panik, sie ist Gelassenheit. Und der Gelassenheit erwächst Mut, denn Mut ist letztlich die Verachtung der persönlichen Gefahr. Deshalb waren wirklich Mutige immer tief religiös.
Was hat dies alles mit der Dichtung zu tun? Nun, ich unterstelle allen, die sich gern auf das Volk beziehen, daß sie ihm im Grunde nicht trauen. Wie kann man dem Volk trauen? Nicht, indem man für Volksabstimmungen plädiert. Abstimmungen sind Gleichmacherei und Verzifferung, etwas, was dem Wesen des Volkes zutiefst fremd ist. Außerdem beweist ein Abstimmungsergebnis nichts als das Geschick des Fragenden. Die besten Zustimmungen erreicht, wer Fragen stellt, die das Einschätzungsvermögen des einzelnen übersteigen oder ihm im Grunde schnurz piep egal sind. So verhält es sich etwa mit der Frage, ob Frau Merkel oder Herr Schröder als Bundeskanzler geeigneter seien. Jeder Deutsche würde viel lieber darüber abstimmen, ob nicht mal zu Abwechslung sein Chef statt seiner Kollegen entlassen werden sollte und ob man wirklich im Dorf xy große Mühen darauf verwenden muß, daß ein Spektakel in Berlin finanziert wird. Aber auch bei den Wahlen zeigt sich die Einheit von Inhalt und Form. Mir hat sich das berühmte Kreuzchen immer mit dem Kreuz assoziiert, daß der Analphabet unter den Arbeitsvertrag macht.
Den Volk trauen, heißt zuerst einmal, sich selbst als Teil eines solchen zu begreifen. Das Problem des Volkes ist nicht die drohende Eiszeit oder die Klimakastrophe, das Problem des Volkes ist der tägliche Existenzkampf, der seit langem härter wird und aussichtlos zu werden droht. Wenn man nicht selbst in diesem Existenzkampf steht und allenfalls in Wohlfahrtveranstaltungen davon hört, kann man auch nichts davon begreifen.
Neben der Müh und der Sorge muß man auch das Vergnügen des Volkes erleben, um ihm trauen zu können. Wer am liebsten in Literaturcafés parliert, dem fehlt die Sinnlichkeit einer Stampe, wo sich Schweiß, Bier und Tabakrauch mischen. Ich habe Arbeitern stundenlang beim würfeln und schnapstrinken zugesehen, ich kenne sie in Euphorie und Niedergeschlagenheit. Ich habe peinlichste Eifersuchtsszenen erlebt, rüdes Geprotze, aber auch das Leuchten in den Augen harter Gesellen, wenn das Glück einmal hold schien. Ich weiß, daß gerade die einfachsten Charaktere noch Ehrfurcht vor geistigen Dingen kennen, und daß ihr Sinn für Recht und Unrecht ein großes Maß an Unverdorbensein beweist. Ich kann dem Volk trauen, weil mich Dreck und Vulgarität nicht ekeln.
Das dritte ist ein Staunen. Gerade die Unterschichten der Gesellschaft haben mich oft stauen lassen wie sonst nur Kinder. Nirgends sonst habe ich so viel Genie gefunden. An dieser Stelle sollte ich vielleicht die Geniebegriff etwas erläutern. Man muß hier bei sorgfältig zwischen Genie-Haben und Genie-Sein unterscheiden. Das zweite ist äußerst selten, so wie Ritter über Novalis sagt, von anderen könne man behaupten, sie hätten Genie, bei ihm hingegen müsse man sagen, er sei eines. Vom Genie-Sein soll hier nicht die Rede sein, aber Genie hat jeder Mensch, und es tritt unvermutet und unvermittelt hervor. Meist wird es nicht bemerkt. Als Dichter habe ich besonders Sinn für das Genie der Sprache. Und es ist für mich das größte Wunder, wie treffend ein unbekannter Genius, die gewöhnlichsten Dinge unserer Umgebung benannt hat. Die Flurnamen, die dem Mittelalter entstammen, haben mich mehr als Waffen, Burgen und Kirchen vom Reichtum dieser Zeit überzeugt. Schon als Kind war für mich ein neues Wort der herrlichste Fund, auch wenn die nur ein landwirtschaftliches Gerät meint, das aus der Mode gekommen ist. Früh wußte ich, daß darin die eigentliche Poesie steckt.
Es gibt den alten lateinischen Spruch, daß sich im Volk die Götter offenbaren. Daran hat sich manche schwachsinnige Deutung gehängt. Die naheliegendste bleibt, daß im Volk sie Sprache entsteht. Dies ist heute nicht anders als im Mittelalter, auch wenn Modedesigner und Werbestrategen anderer Ansicht sind. In den Reden der einfachen Menschen findet der Dichter Themen und Melodie.
Die Sprache ist sehr treffend als das Kleid der Seele bezeichnet worden. Der Sprache nachzulauschen, heißt, in die Seele des Volkes eintauchen. Es gibt das Sprichwort: »Wo man singt, da laß dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.« Zwei Aspekte erscheinen mir hierbei von Bedeutung: der erste ist die Aufforderung, in die Volksseele einzutauchen, dort, wo sich sich am reinsten offenbart, im absichtsfreien Sprechen, im Gesang. Das zweite ist die ethische Begründung, es wird ein absolutes Gut in dieser Offenbarung behauptet. Nun gibt es natürlich auch böse Menschen, die singen. Das Sprichtwort ist auch nicht als eine Art Lackmus zu verstehen, das Säure und Base treffsicher diagnostiziert. Wie jede Weisheit ist auch dieses Sprichwort in der Hand eines mechanistisch denkenden Chirurgen nichts als ein dummer Aberglaube. Weisheit ist nie eine Meßlatte. Weisheit ist ein Wink und ein Weiser, wo eine Richtung angedeutet wird. Eine sehr bedeutsame Richtung. Denn im Gesang offenbart sich ein kostbares Gut. Deshalb kommen man mir nicht mit Gegenbeispielen.
Ich bin wieder beim Volkslied, und das ist kein Zufall. Wer dem Volke traut, der mag seine Weisen. Die bedeutsamste Volslied-Sammlung ist der Zupfgeigenhansel. Faszinierend ist an dieser Sammlung vor allem die Treffsicherheit, mit der der Wandervogelgeist Echtes gefunden und Gemachtes weggelassen hat. Die Quellen sind vielfältig, aber die Einheit ergibt sich aus dem diesem sicheren Instinkt. Was hier aufgenommen wurde, sind spontane Lebensäußerungen, gerade die Unvollkommenheiten beweisen das Fehlen der kritelnden Feile. Nicht die Meisterschaft ist das Ziel der Autoren, sondern die adäquate Umsetzung eines Lebensgefühls. Eines Lebensgefühls, das die Verführungskünste der Moderne zu ersticken drohen. Die Bundgenossen aller Banalisierungs- und Gleichschaltungstenzen heißen Feigheit und Bequemlichkeit. Man muß sich immer wieder vor Augen führen, daß diese Lieder aus der Mühsal des vormodernen Lebens entstanden sind. Wer kann denn heute noch nachfühlen, durch Europa zu wandern und sein Handwerk zu erlernen. Welcher Mut dazu gehörte und welche Freiheit dieser Mut brachte, davon erzählen die Lieder.
Das Volk liebt den Reim, so wie Kinder den Reim lieben. Zunächst einmal ist er eine ausgezeichente Gedächtnisstütze und damit unentbehrlich in der mündlichen Überlieferung. Die Schriftlichkeit schiebt bereits ein erstes Medium zwischen Seele und Resonanz, sie ist ein erster Schritt auf dem Weg vom Echten zum Surrogat. Sigmund Freud hat in seiner Schrift über den Witz den Reim als eine Urlust benannt, um die sich ein Inhalt lediglich gruppiert, um Einwände des Verstandes abzublocken. Dieser Theorie soll hier nicht nachgegangen werden. Hingewiesen sollte aber darauf, daß Freud in seiner Theorie des Unbewußten den Reim als etwas seelisch Bedeutsames erkannt hat.
Ich denke, die vorangegangen Absätze haben hinlänglich deutlich gemacht, daß zwischen Volksfeindschaft und Reimfeindschaft eine hohe Affinität besteht, so wie andererseits zwischen Volkssprache und Reimgedicht. Abschließend möchte ich noch erwähnen, daß ich vor einiger Zeit in einem renommierten Fachbuch eine Definition reaktionärer Pädagogik fand. Ihr Kennzeichen sei die Schulung des Gedächtnisses auf Kosten der Kombinationsfähigkeit. Dies könnte man kürzer fassen: die Reaktion liebt den Reim, die Linke die Experimente.

IV

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als sei alle Poesie notwendig gereimt. Es gibt auch reimlose Gedichte von Goethe, und Hölderlins Bedeutung besteht vor allem in der Wiedererweckung reimloser antiker Strophenformen, während er im Reimgedicht immer Schillers Epigone blieb. In einer Kultur des Reimgedichts ist die Situation reimloser Verse freilich eine andere als außerhalb. Der abwesende Reim führt den Zuhörer, der Reime gewohnt ist. Aus der Regelabweichung ergeben sich Bedeutungsverstärkungen und Bedeutungsminderungen, die natürlich außerhalb dieser Kultur nicht wahrgenommen werden können. So kann die Poesie paradoxerweise dadurch gesteigert werden, daß sie auf Mittel verzichtet. Stolz und Erhabenheit der Hölderlinschen Oden verdanken sich auch ihrer Abgehobenheit von der Volkssprache.
Anders verhält sich die Sache in der klassischen Antike. Hier kommen gänzlich andere poetische Mittel zum Einsatz. Ich sehe dies vor allem im Zusammenhang mit einem anderen Klima und der entsprechenden Erfahrung. Die griechische Welt ist durch ein ganz eigentürliches Licht ausgezeichnet, welches die Plastizität aller Gegenstände und Vorgänge erhöht. So ist der Hellene ein Augenmensch, der Tod ist für ihn vor allem der Verlust dieses Lichts, das Walten im Dämmer erscheint ihm uneigentlich und freudlos. Der nordische Mensch ist hingegen den Nebel gewöhnt, dies noch viel mehr, als Sümpfe und Moore noch nicht entwässert und abgetorft waren. So ist er Ohrenmensch, für ihn ist die Seele Musik. Der Reim ist die Musik der Sprache, zunächst der germanische Stabreim, später der arabische Endreim.
Reim und Sprache haben gerade im Deutschen eine Wechselentwicklung gezeitig, die einzigartig ist. Deshalb ist es eine große Gnade für jeden Dichter, als Deutscher auf die Welt zu kommen. Das Deutsche baut auf die einsilbigen germanischen Wortstämmen auf, eigensinnig und knorrig, abgrundtief und raunend. In diese Welt haben übersetzende Mönche die griechischische Grammatik und orientalische Fabulierkunst hineingetragen und damit Formen und Assoziationsquellen geschaffen, die den Dichter verwöhnen. Das Verbum, das in jeglicher Literatur die Seele des Satzes darstellt, wechselt in seiner Konjugation den Stammvokal, außerdem überscheiden sich die Endungen der Konjugation mit denen der Deklination, so daß Reimressovoire entstehen. Fast jedem männlichen Reim entspricht ein weibliches Pendant, die Wandlung des Sinns unterliegt aber dabei keiner Regel, so daß diese Sprache voller Überraschungen ist. Zum dritten verhält sich die deutsche Sprache unter den anderen Hochsprache extrem konservativ, so daß fünfhundert Jahre alte Texte noch mühelos verstanden werden können. Die deutsche Sprache weist uns als das Volk der Dichter aus, das in Sonntagsreden so gern beschworen wird. Natürlich ist die Erwähltheit des Deutschen kein Zufall, das Kleid der Seele korrespondiert mit den treuesten Brüdern der Seele in der äußeren Welt, und das sind die Bäume, die nirgendwo in der Welt so prächtige Arten entfalten wie in Mitteleuropa.
Nach dem Gesagten wird es nicht verwundern, wenn ich zusammenfassend bemerke, daß der Kampf um den Reim nicht nur ein Kampf um die Seele ist, sondern zuerst und zuletzt ein Kampf um die deutsche Seele. Der Reim ist mehr als der Rabe und der Wolf das Hoheitszeichen der Deutschen. Auf diese Weise wird deutlich, daß die Aggressionen wider das Reimgedicht aus einer Aggression wider die deutsche Identität speisen. Dies ist ein sehr trauriger Zustand. Denn gerade jene, die meinen, die deutsche Seele sei krank oder irregeleitet, müßten sie annehmen, um sie gesunden zu lassen..

V

Die Katastrophe von 1945 war vor allem eine unglaubliche Entmutigung der Deutschen. Man kann dies besonders gut im Lebenslauf von Männern und Frauen sehen, die nicht mit dem Nationalsozialismus sympathisierten und Hitlers Untergang nicht bedauerten. Kraft und Inspiration, die sie in den Jahren der Gefahr nicht verließen, scheinen nach dieser Niederlage ausgelöscht. Manchen Autoren fällt nichts dümmeres ein, als nun den stalinisischen Rattenfängern nachzulaufen, andere resignieren. Neue Autorengruppen entstehen und werden von Exilanten dominiert. Die deutschen Dichter, die mehrheilich nicht emigriert sind, versammeln kraftlosen Runden, aus denen kein Funke springt in die Jugend, die Dichtung verkümmert. Einige tradionelle Dichter erfahren in den fünfziger Jahren einen bescheidenen Erfolg, weil sie in scheinbar unverfängliche Themen ausweichen, Fritz Usinger, der den Stern Vergeblichkeit und den Bienenkönig besang, ist dafür ein Bespiel. Nachdem er in den fünfziger Jahren noch auf Klappentexten von Taschenbüchern Kollegen anpreisen durfte, fand er in den sechziger selbst für seinen eigenen Gedichte keinen Verleger mehr.
Nach dem Wirtschaftswunder wurden die Refugien für unpolitische Dichter zunehmend ausgemerzt. Die Erfolge der Marktwirtschaft ließen keine Ignoranz mehr zu, es würde ein Mittun bei den gesellschaftlichen Entwürfen und Veränderungen verlangt. Kirchen wurden im modernistischen Stil errichtet und ausgestattet, selbst Kinderbücher hatten sich der neuen Ästhetik zu beugen. An der Münchner Kunst-Akademie gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für gegenständliche Kunst mehr, das Abstrakte ist unangefochtenes Dogma.
Es bedarf des Glaubens eines Martin Luther, um in dieser Situation noch Rettung zu hoffen. Aber wie in seiner Zeit gilt unvermindert: Wenn es Gott gibt, so kümmert es ihn wenig, wenn der Teufel auf dem Stuhl Petri sitzt. Für Gott ist unsere Zeit ein Staubkorn im All. Aber für uns ist das Leben der Raum der Bewährung. Und den Teufel wird man nicht mit Bomben besiegen. Den Teufel besiegt die lebendige Schöpfung, die trotz seines Wütens keimt und gedeiht. Und die Schöpfung des Menschen ist die Kultur, das heißt im einzelnen die Kunst. Jede echte Kunst, auf welchem Niveau auch immer, ist Widerstand gegen die Mechanisierung und Virtualisierung, gegen die Entseelung des Menschen durch die Medien.

VI

Vor diesem Hintergrund ist mein Traum seit früher Jugend eine Dichterschule, mönchisch und wehrhft. Sie nimmt den zerbrochenen Bogen der Tradiion auf, richtet ihn, heilt ihn und spannt ihn. Sie wurzelt im Volk und gibt dem Volk seine Wahrheiten wieder, entlarvt die Lügen als Lüge, die Versuchungen als Versuchung und die Abgründe als Abgrund. Als ich 1981 »Das Holde Reich« von Rolf Schilling las, glaubte ich eine solche Schulde im Entstehen. Leider sah ich mich bald schon getäuscht, in dem Essay »Questenberg« von 1983 findet sich der Satz: »Das Holde Reich bin ich«. So hat das Reimgedicht, das Rolf Schilling in den siebziger Jahren wiederbelebte, seine Stoßkraft eingebüßt, es wurde zum Dandytum, zur narzißtischen Grille und zur Spiegelfechterei. Später fand ich selber die Höhe und auch jüngere Mitstreiter. Für mich ist die Dichtung stets ein politischer Auftrag.
Wenn ich dürch die Münchener Goethestraße gehe, die immer mehr dem Basar von Istambul ähnelt, überkommt mich ein Neidgefühl, denn ich sehe wie die Türken selbstbewußt und kraftstrotzend ihre Wege gehen. Die Jugendlichen spielen mit Handies und fahren gern schnelle Autos genau wie die deutschen Jugendlichen. Aber es gibt einen gewichtigen Unterschied. Wenn die Rede auf den Islam kommt, werden sie ernst und bestimmt. Da gibt es keinen Flachs und keine Witzeleien: Die Religion ist wichtig für sie, und wenn die Deutschen das anders sehen, ist das deren Problem. Und Ende.
Ohne Religion gibt es keine Volks-Identität. Selbst der Kommunismus konnte nicht auf Regionsersatz verzichten. Stalin rief auf, die »heilige russische Erde« zu verteidigen, obgleich es so etwas nach kommunistischer Ideologie gar nicht geben dürfte. Ich sagte bereits an anderer Stelle, daß die Religion die Vorraussetzung von Mut ist.
In Deutschland ist der Nihilismus besonders weit fortgeschritten. Das hat auch historische Gründe. Die Christianisierung ging für viele einher mit dem Verlust oder der Einschränkung von Freiheit. Wie sich dabei die Kausalität verhält, ist strittig, aber allein die Verknüpfung des neuen Glaubens mit Verschlechterungen wirkte sich sehr kompromittierend aus. Im Mittelalter kämpften die deutschen Philosophen gegen die Pariser Scholastik, zu Beginn der Neuzeit folgten die Deutschen im Norden und im Osten der Reformation Martin Luthers, wärend der Süden und der Westen bei der römischen Kirche blieben. Der dreißigjährige Krieg wurde vor allem in Deutschland ausgetragen. Entschieden hat er nichts. Sei dem 19. Jahrhundert versucht mancher, die Götter der Edda wieder zu beleben und allerlei alternative Lebensformen mit ihnen zu verbinden. Unter Adolf Hitler, der selbst bis zum Tode Katholik blieb, entwickelte die SS neuheidnische Rituale für einen elitären Orden. Die deutsche Seele scheint aus Elementen zusammengesetzt, die sich gegenseitig das Leben schwermachen.
Das muß aber nicht so sein. Ich glaube, daß Bonifatius nicht nur an den Friesen gefrevelt hat, sondern auch an seinem Herrn Jesus Christus. Als ich noch meinte, das Heidentum gegen die Christen verteidigen zu müssen, erwiderte mir ein Priester aus Österreich auf mein Lob des Polytheismus: Ja, das ist alles eine große Familie, und Gott ist der Chef. Das brachte mich auf den Gedanken, daß diese Weltsichten nicht unbedingt unvereinbar sind. Schon die katholischen Heiligen sind den heidnischen Heroen nachgebildet. Auf der anderen Seite hatte auch die griechische Philosophie einen Begriff des Göttlichen, das über den Göttern stand. In der Folge fiel mir auf, daß gerade die Edda sehr viel vom Evangelium vorwegnimmt, viel mehr als das Alte Testament. Vor allem das Selbstopfer Odins, der neun Tage am Baum hängt, erinnert an die Kreuzigung. Die Opferung des Auge an Mimirs Quell an die Taufe. Die Götterdämmerung an die Apokalypse.
Aller Religion liegt die Einsicht zu Grunde, daß der Mensch entscheidende Fragen seines Wesens und seiner Existenz nur bildhaft und in einer gewissen Absurdität fassen kann. Credo quia absurdum est. Wenn der Mensch sich aber damit abfindet, daß eine letzte Stimmigkeit in seiner Geisteswelt nicht zu erreichen ist, warum wehrt er sich dann so verzweifelt gegen Abweichler von einem Dogma, bekämpft Ketzer und hält Dinge für Feuer und Wasser, deren Natur vielleicht gar nicht so feindlich ist?
Hier soll nicht einem Relativismus das Wort geredet werden, und ich bin Eklektizismen überhaupt nicht aufgeschlossen, die sich etwa aus jeder Menschheitsreligion das Passable herausklauben wollen. Ich versuche vielmehr dazutun, daß unsere Vorfahren, die die frohe Botschaft aus Palästina annehmen, nicht gerade zum Judentum übertraten. Es läßt sich mit gewissem Recht vermuten, daß Gott nicht etwa deshalb als Jude Mensch wurde, weil die Juden Gott besonders nahestanden. Sie selbst waren zwar und sind noch heute davon überzeugt, Gottes erwähltes Volk zu sein, aber daß Gott dies ebenso sieht, dafür spricht wenig. Die Botschaft des Evangelium ist viel weniger antirömisch als antijüdisch, daraum erscheint leicht einsichtig, daß die Juden viel mehr Grund hatten, Jesus zu hassen als die Römer. Vor allem die Kernaussage zielt gegen die Juden: Der Weg zum Heil liegt nicht im Befolgen der Gesetze, sondern im reinen Herzen.
Ich glaube, daß die Juden mit ihrer rechthaberischen Gesetzesgläubigkeit, Gott eher fernstehen. Das Evangelium berichtet auf allen Seiten, daß sich Gott geradezu in dem Gegenteil von dem inkarniert hat, was aufgeklärte Zeitgenossen für angemessen gehalten hätten, nicht etwa als Cäsar, sondern als Handwerkerkind, nicht etwa in einem Palast geboren, sondern, besonders verächtlich, auf Reisen in einer Herberge, er reitet nicht auf einem Schlachtroß, sondern auf einem Esel und er endet als Verbrecher, von seinem eigenen Volk angepöbelt und geschmäht. Gib uns Barabas! Tiefer kann niemand fallen. Ist es in diesem Zusammenhang gewagt, schon in der Nationalität ein Stigma zu sehen?
Wenn ich vorhin sagte, ich sähe große Parallelen zwischen Germanen- und Christentum, so sehe ich diese ebenso zwischen Islam und Judentum. Beide Religionen glauben an einen eiferüchtigen Gesetzgeber mit akribischen Vorschriften, nicht etwa an einen Anwalt des reinen Herzens. Ihre Verlästerung des Schweines als eines »unreinen Tieres« mußte bei unseren Vorfahren großen Anstoß erregen. Daß kein anderes Tier in deutschen Ortsnamen so häufig vorkommt wie Schwein und Eber, zeigt hinlänglich, welche Bedeutung dieses Tier für uns hatte. Daß heute sogar Herztransplantationen mit Schweineherzen geglückt sind, erscheint mir, abgesehen davon, daß ich solche Kunststücke ablehne, jedenfalls nicht als Beleg dafür, daß Gott Schweinefleisch ein Greuel sei. Im Gegenteil, ich halte dieses Dogma von Juden und Moslems für den Gipfel der Gotteslästerung.
Eine Theologie, die sich vom Judentum trennt und das Evangelium auf die Gesänge der Edda setzt, könnte die tiefe Wunde in unserem Volke heilen. Natürlich sind wir von solchen Aussichten um Generationen getrennt. Aber die Dichtung kann schon heute und hier diese Vorstellungen reifen lassen und eine Ethik begünden, die der Brutalität des Altertums überlegen ist. Sollten die Deutschen im Kern gesunden, wiegen die Gebietsverluste gering. Die Länder werden sich uns anschließen, wenn wir vorbildlich sind.

VII

Wenn einer reimt, so wird er angefeindet. Mir ging es seit frühester Jugend so. Meine Gedichte waren harmlos, Natur- und Wanderlieder, Liebeslust und Liebesleid, kleine Szenen nach literarischen, biblischen oder mythologischen Vorbildern. Aber das war schon schlimm genug. in Leipzig hatten Freunde eine kleine Lesung in einem Jugendklubhaus irgendwo im Süden der Stadt organisiert. Anwesend war auch eine Vertreterin des offiziellen Kulturbetriebs, vielleicht vom Johannes-R.-Becher-Institut. Sie tat, als sei sie von meinem Vortrag angetan und lud mich auf eine Veranstaltung ein, in der erfahre Autoren jungen Dichtern Ratschläge erteilen und zu Kontakten verhelfen würden. Ich war Anfang zwanzig und ging ihr auf den Leim.
Die Veranstaltung war offenbar eigens dazu erfunden worden, verwirrten Schäfchen wie mir die Ohren langzuziehen. Ein ansehnliches Publikum war ihm Saale versammelt und wußte offenbar im Gegensatz zu mir, daß es etwas zu lachen geben würde. Auf der Bühne hatte drei, wie es hieß, ausgebildete Schriftsteller, in Sesseln Platz genommen. Ich las drei Sonette, bei denen das Publikum zwar nicht lachte, aber irritiert abwartete. Der erste der Kritiker suchte nun darzutun, daß ich die Themen meiner Gedichte selbst nicht annähernd begriffen habe und mein Erscheinen vor diesem Podium die reinste Anmaßung sei. Der zweite stellte mir da, welche Ausbildungsnachweise und welche Referenzen hier normalerweise von jungen Dichtern erwartet würden, bis der der dritte das Ausmaß der Häme noch übertraf, indem er meine literarischen Produkte Vers für Vers als Ausdruck unwältigter Sexualität und Unreife interpretierte. Der Saal tobte. Ich wagte noch einen kleinen Einwand, der die Stimmung weiter anheizte, dann ergriff ich die Flucht.
Es scheint einsichtig, daß ich mich in den folgenden Jahren nicht sonderlich um Lesungen bemühte. Etwa zehn Jahre nach dem Leipziger Fiasko überredete mich jedoch eine Kollegin im Buchhandel, sie hätte exzellente Kontakte zum Münchener Literaturhaus und dort würden Dichter für Lesungen gesucht. Ich erklärte mich also bereit, die Dame zu treffen, die gewöhnlich diese Lesungen veranstaltet. Ich traf sie im »Extrablatt« in der Leopoldstraße, dem Schwabinger Pressecafé, und hielt das für ein Entgegenkommen. Wie gefordert, hatte ich die Texte und eine Kurzvita dabei. Die Dame machte ganz und gar nicht den Eindruck, als stünde sie einem Literarischen Salon vor, ihr fehlte alles Mondäne, ja sie war fast etwas verhuscht. In dem Gespräch sagte sie wenig, aber sie gab mir Termin und Ort der geplanten Lesung in etwa zwei Wochen. Ich sagte zu. Einige Stunden vor dem Ereignis rief sie bei mir an und teilte mir mit, sie habe schreckliche Migräne und die Lesung könne deswegen leider nicht stattfinden. Danach hörte ich niemals mehr von ihr und ich bin darum ohne Nachricht, ob die schreckliche Migräne nach wie vor andauert.
Eine ganz anders geartete Szene fällt mir noch zur Illustration ein. In meinen ersten Münchener Jahren lebte ich mit einem bildenden Künstler in Wohngemeinschaft, der klassische Kupferstiche machte, aber auch Collagen und Objekte. Er versuchte in der Münchener Kunstszene Fuß zu fassen und schwätzte hie und da mit Galleristen, von denen es in der Maxvorstadt und in Schwabing nur so wimmelt. Einer war schließlich bereit, Arbeiten von ihm auszustellen und im Verkaufsfalle den Erlös zu teilen. Ich war bei den Verhandlungen dabei und half auch beim Aufbau. Da der Galerist unsere Vertrautheit bemerkte, hielt er mich auch für einen Künstler. Interessiert fragte er, was ich denn so mache. Ich sagte ihm, mein Metier seien Gedichte. Gedichte, wiederholte er, und man konnte sehen, wie sein Gehirn arbeitete, bis er abschloß: Gedichte, das kann man nicht verkaufen.
Nun, das letzte war gewiß nicht böse gemeint. Aber die Verwirrung darüber, daß sich ein begabter junger Mann solchen Dingen widmet, war nicht gespielt. Auch die selbstverständliche Annahme, daß jedermann nach einem Maximum an Gewinn und Einkommen strebt, saß tief. Einige Zeit später ereignete sich in Berlin einer Bombenanschlag auf eine von amerikanischen Soldaten besuchte Diskothek. Ein Araber würde als verdächtig verhaftet, man hielt die Papiere, die er bei sich trug, für den Plan des Anschlags. Schließlich stellte sich heraus, daß es sich statt dessen um Gedichte handelte. In der Presse sorgte dies für eine große Erheiterung, hielt man doch Gedichte für den Gipfel der Harmlosigkeit.
Gedichte als eine alberne Grille abzutun, ist jedoch nur die eine Vorgehensweise. Die andere ist offen repressiv, und es wundert mich nicht, daß ich nach all dieser Zurückweisung darüber nachsann, ob etwas faul sei im Staate Dänemark. Ich begann also in den einzelnen Erfahrungen ein verbindendes Band zu entdecken und kam schrittweise zu den Ergeb-nissen, die in den ersten Abschnitten ausgebreitet wurden. Die politische Bewegung der Grünen, deren Aufstieg ich miterlebte, machte mir keinerlei Hoffnung auf Besserung. Einige Illusionen hatte ich nach dem Fall der Berliner Mauer, als viel von den 89ern die Rede war, die alles anders machen würden als die 68er. 1990 stellte ich die ersten sieben Bände der Rolf-Schilling-Gesamtausgabe her und es gab einen gewissen Pressewirbel, weil man eine ganz andere Seite der DDR-Geschichte entdeckt zu haben glaubte. Dies versank aber schon bald im gewohnten Schweigen.
Im Jahre 2006 wuchs mir ein Tumor im Hinterkopf und ich mußte für Monate ins Krankenhaus. Es war ziemlich knapp und die erste Woche auf der Intensivstation schwebte ich zwischen Tod und Leben. Als ich wieder hergestellt war, begann eine nie dagewesene Produktivität und ich verdoppelte mein Gesamtwerk in nur 16 Monaten. Ich wollte nun doch ganz Dichter sein und so fand ich es gut, daß mich ein Freund als Dichter in die Netz-Enzyklopädie Wikipedia eintrug und einen Artikel schrieb. Es gab rasch Kritik an diesem Artikel, schließlich wurde er auf die Liste der zu löschenden Einträge gesetzt. Die Experten waren einstimmig der Meinung: löschen. Abgesehen von reiner Häme »Lammla, ein deutscher Dichter - selten so gelacht.«, gab es auch Argumente und die hießen: null Liteaturpreise, keine Sekundärliteratur, Werke nur im Kleinverlag - das ist nichts für ein Lexikon. Daraufhin schrieb ich über hundert Literaturzeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz an und bot ihnen zur kostenlosen Veröffentlichung Gedichte. Manche hatte für die nächste Ausgabe ein spezielles Thema festgelegt, ich war mir nicht zu fein, auch diesen Vorgaben zu folgen. Im Ergebnis sagten etwa etwa 20% der Magazine die Veröffentlichung ab, die übrigen hüllten sich in Schweigen.
Dabei fiel mir in Netzforen auf, daß von Dilettanten in neuester Zeit wieder gereimt wird. Dieses Phänomen ist leicht erklärt. Nachdem die Reimkultur wirksam beerdigt ist, hat die Vergleichbarkeit keine Abschreckung mehr, und so darf außerhalb der Kulturszene wieder diese oder jene Harmlosigkeit gedeihen. Die Zeitschriften-Redakteure merkten freilich sofort, daß ich nicht zu den neuen Naiven zähle, und so war Tolerenz unter keinen Umständen angebracht.

VIII

Der Dichter wurzelt im Volk, dies ist nicht nur die Sprache und der unmitelbare Ausdruck im Volkslied, sondern auch die Mythen und Sagen und die ans Sagenhafte grenzenden Scheitelpunkte der Geschichte. In allem, was das Volk an Träumen und Erfahrungen hegt, sucht der Dichter das Überzeitliche und Symbolische.
Im Zentrum deutschen Sinnens und Trachtens steht das Reich. Das Reich hat einen deutschen König und einen römischen Kaiser, nicht etwa einen preußischen König und einen deutschen Kaiser. Es begreift sich in Kontinuität zum Römischen Reich und zu den germanischen Stämmen. Diese zwei Pole werden durch das Christentum zusammengehalten, das Christentum ist der Heilige Geist, der Alten und Neuen Bund vereint. So ist das Reich eine trinitarische Idee und schon von daher ausschließlich christlich denkbar. Wenn man das Reich dadurch zu verlästern sucht, daß man es Hitler übereignet, ist dies eine Absudität. Hitler verachtete die Traditionen, die Stände und den Glauben, seine Staatsvorstellung ist zertralistisch wie die der Perser. Damit steht er nicht nur gegen das deutsche Erbe, sondern auch gegen die Antike, die sich zu Salamnis und an den Thermopylen bewies.
Das Reich ist keine Dynastie, und die lange Führung durch die Habsburger fällt bereits in die Verfallszeit. Der König wird persönlich und durch Freie gewählt. Der Begriff der Freiheit unter den Germanen ist sorgfältig von der modernen Propaganda zu scheiden. Frei ist in diesem Sinne nur, wer über Land verfügt, sich und die seinen zu ernähren, und hinreichend bewehrt ist, diese vor Feinden zu schützen. Hieraus ergeben sich Abstufungen der Freiheit, denn Land und Waffen sind ungleich verteilt. Das Wahlrecht wird nicht durch Geburt erworben, sondern durch den Nachweis, mit den Folgen der Wahl auch umgehen zu können. Wesentlich an der Freiheit ist auch, daß sie immer durch die Ahnen und die Ungeborenen eingeschränkt ist, eine Freiheit im Sinne von Willkür kennen die Germanen nicht, auch kein Privateigentum, mit dem sich in kapitalistischer Manier spekulieren läßt.
Als die französische Revolution Freiheit und Gleichheit auf ihre Banner schrieb, bemerkte Goethe sehr treffend, es sei Scharlatanerie, Freiheit und Gleichheit gleichzeitig zu versprechen. Da die Menschen in Begabung, Willen, Fleiß und Ausdauer höchst verschieden sind, muß jede Freiheit zur Verstärkung ihrer Ungleichheit führen. Die liberale Demokratie muß die Absudität der »Ideen von 1789« dadurch kitten, daß sie Freiheit in der Wirtschaft erlaubt, und das heißt die Freiheit des Kapitals, und der daraus resultierenden extremen Ungeleichheit, die Gleichheit im Politischen zur Seite stellt. Da freilich jeder weiß, daß die Wirtschaft tyrannisch über die Politik bestimmt, ist diese Gleichheit nichts als eine Komödie. Ebenso verhält es sich mit der Freiheit. Das Kapital wird sein Generationen vererbt, und die Ölbarone beherrschen die Welt. Die dritte »Idee«, die sentimentale »Brüderlichkeit&aquo; erlaube ich mir als undiskutabel wegzulassen.
Gleichheit zu verordnen ist die brutalste Unterdrückung der Freiheit, die denkbar ist. Am weitesten hat es auf diesem Wege Pol Pot gebracht, aber ein Staat der mit hohen Steuern »soziale Gerechtigkeit« einfordert, tut kaum etwas anderes.
Die Gleichheit ist freilich auch eine uralte Idee, und ihr Widerspruch zur Freiheit macht sie nicht zum Hirngespinst. Man denkt zuerst an die spartanischen Hopliten und dann an die mönchigen Orden, auf die sich alle Arten von Kameradschaften stützen. Hier steht ein Freiheitsverzicht am Anfang, ein Gelübde, ein Willensakt der Unterwerfung, der alle Gleichen vereint. Der Begriff der Gleichheit steht und fällt mit dem Kreis der Gleichen. Eine allgemeine Gleichheit kennt das Christentum vor Gott. Im Grunde besteht aber diese nicht nur unter allen Menschen, sie schließt auch Tiere, Pflanzen, Steine, Quellen und Seen mit ein. Es ist die Gleichheit der Welt, und sie beginnt mit dem Gelübde, jedes Geschöpf zu achten. Diese Gelübde ist das umfassenste Glaubensbekenntnis, wer sich außerhalb dieser Gleichheit stellt, wird zurecht als der Teufel bezeichnet.
Wenn die Gleichheit vor Gott von der Moderne durch die »Gleichheit vor dem Gesetz« ersetzt wird, ist dies eine ungeheure Anmaßung. Zunächst einmal kann das Gesetz nur über Menschen herrschen, zum anderen ist es an entsprechende Zugriffsgewalt gekoppelt. So liegt ist dieser Setzung bereits der Anspruch der Weltherrschaft, wie sie zunächst Napoleon versuchte und wie sie heute die USA im Namen der »Menschenrechte« anstreben.
Freiheit und Gleichheit sind Antipoden, die sich nich nur begrenzen, sondern auch stützen können. Neben der Gleichheit durch einen Willensakt, gibt es auch Gleichheiten des Herkommens. Wenn man diese anerkennt, kann man kollektive Identitäten als Freiheit begreifen, auch wenn diese die persönliche Freiheit begrenzen. Gleichheiten des Herkommens sind Rasse, Glaube, Volk und Landsmannschaft, aber auch die ständische Ordnung ist in dieser Weise zu verstehen. Neben der Freiheit des Aufbegehren gibt es auch eine Freiheit des Einklanges.
Freiheit und Gleichheit vereinen sich auch trefflich im Reim. Der Gleichheit des Klangs gesellt sich die Freiheit des Wortsinnes. Die Freiheit wird dabei durch die Sinnsetzungen der Sprache und durch das Gebot der Gleichheit begrenzt. Dies ist ein Gleichnis des menschlichen Lebens überhaupt. Der Reim greift auch hier in die elementare Wahrnehmung, die Religion und Politik in gleicher Weise verorten.

IX

Ernst Jünger nannte das Gedicht den Ausnahmezustand der Sprache. Da er in seinen Tagebüchern und Essays vor allem Reimgedichte von Droste-Hülshoff, Baudelaire und Rolf Schilling erwähnt und zitiert, dürfen wir diese Charakterisierung auf das Reimgedicht beziehen. Aus dem Munde eines Hauptmanns und Ritterkreuzträgers gewinnt diese Setzung besondere Stoßkraft.
Der Ausnahmezustand war früher vor allem Kriegsrecht und Belagerungszustand, im Gang der Geschichte emanzipierte sich dieser Begriff von der Kriegssituation und schließt auch Staatskrisen, Bürgerkriege, Naturkatastrophen und wirtschaftliche Notzeiten ein. Die Römer kannten die Diktatur für ein halbes Jahr. Nachdem sie Cäsar entfristet hatte, wurde die Institution abgeschafft. Allerdings etablierte das Zweite Triumvierat eine verfassungspolitische Verlegenheitslösung, die einer Neueinführung der gerade abgeschafften Diktatur gleichkam.
Carl Schmitt, auf den sich Jünger wesentlich berufen dürfte, unterschied zwischen der kommissarischen und der souveränen Diktatur. Die erste ist in den Mitteln frei, aber im Zweck strikt gebunden, während die zweite Form die Verfassung suspendiert und eine neue Ordnung stiftet. Die kommissarische Diktatur kann in eine souveräne münden, wenn sich der ursprüngliche Zweck, die Wiederherstellung der verfassungskonformen Ordnung, als unvereinbar mit der Verfassung erweist. Nach Carl Schmitt ist souverän, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Wenn wir dieses Bild auf die Sprache anwenden, so leuchtet ein, daß das Gedicht in der Tat mit diktorischen Vollmachten arbeitet: die stärksten Eingriffe erfolgen bei der Satzstellung, die Satzglieder stehen nicht mehr in der prosaischen Reihenfolge, sondern in einer Struktur, die durch Reim und Rhythmus bestimmt wird. Verkürzungen treten auf, Artikel und Konjunktionen werden geopfert, die Trennung von Aktiv und Passiv verwischt sich. Zeitliche Unverträglichkeiten werden souverän überspielt. Komperativ und Imperativ treten aus ihrem sonstigen Schattendasein in den Vordergrund. Stärker noch als bei der Grammatik schlägt die Diktatur bei der Wortwahl zu. Halb vergessene und ungewöhnliche Worte mischen sich in den Text und bringen Ahnungen und Bräuche mit. Sie verändern ihren Sinn und verändern den Kontext. Urworte treten auf, die durch ihr Gewicht den Zusammenhang sprengen. Vor allem aber scheint die Bindung der Worte an ein bestimmte Sphäre, etwa die Landwirtschaft, die Exegese oder den Jahrmarkt, aufgehoben. Nun werden diese fremdartigen Gäste durch die Aktentuierungen des Verses noch zusätzlich aufgewertet, so daß in der Tat die verfassungsmäßige Ordnung aufgehoben ist und der Ausnahmezustand herrscht.
Handelt es sich nun um eine kommissarische oder einer souveräne Diktatur? Zunächst dürfen wir von einer kommissarischen ausgehen. Das menschliche Leben verläuft nicht im Gleichmaß, es ist reich an Stromschnellen und Krisen. Die bekannteste Krise ist die Pubertät, wo auch das Gedicht eine besondere Rolle spielt. Die Seele bannt außergewohnliche Höhen und Tiefen in eine Gestalt, die diesen in der literarischen Form ein Gleichgewicht schafft, das die Empfindungen aus sich nicht schaffen können. Der Liebesschmerz ist total und unvermittelbar. Aber der Reim bringt auch das unvermittelbarste in einen Zusammenhang, stiftet Ordnung, wo die Seele zur Raserei neigt. Mit Zungen sprechen, nannte man das früher. Neben Eros sind es überhaupt Begegnungen mit dem Absoluten und Göttlichen, die uns zu Versen hinreißen. In Delphi wurde das pythische Orakel von Priestern in Verse gesetzt. Angelus Silesius nähert sich reimend der mystischen Unbegreiflichkeit Gottes an. Schiller meint, das Schöne blühe nur im Gesang, und dies glaubt man ihm gern, denn sein Leben war arm an Ordnung und Gleichmaß. Rilke ruft den Engel und die Tiere als Gegenpole zu der »gedeuteten Welt«. In der unüberbrückbaren Differenz liegt der Schrecken der Begegnung. Der Dichter versteht das Dasein als Schwebe, die unausweichlich verletzt wird.
Ob das Gedicht für den Dichter die Ordnung wieder herstellt, ob die Kunst gewisserweise therapeutisch wirkt, ist nicht unsere Frage. Das Gedicht ist nicht der Ausnahmezustand des Dichters, sondern der Sprache. Es geht also allein um die Ordnung von Sagbarem und Gesagtem. Dafür ins die Betrachtung von Belang, welche Wirkungen Gedichte auf die gesprochene Sprache haben, ja, ob eine Wirkung überhaupt in nennenswertem Umfang gegeben ist. Leicht neigt der moderne Mensch dazu, diese Frage zu verneinen. Was ihn dabei täuscht, ist sein kurzatmiger Bezug zur Zeit.
Ich glaube, die Germanen hielten die Bäume heilig, weil sich in ihnen eine völlig andere Zeiterfahrung manifestiert, als sie uns Menschen gegeben ist. Man kennt die tausendjährigen Eichen, im Grenzland von Thüringen und Bayern sah ich bei Schlegel einen uralten Apfelbaum, im Altertum wurde vor allem das sagenhafte Alter der Olivenbäume besungen. Die meisten Menschen sehen in Pflanzen überhaupt keine Lebewesen, weil ihre Reaktionszeit außerhalb unserer Beobachtungsgabe liegt. Allerdings weiß man von Leuten, die mit ihren Blumen sprechen, und beobachtet einen Zusammenhang von emotionaler Zuwendung und dem Gedeihen der Blüten. Vor einiger Zeit las ich zu diesem Thema einen naturwissenschaftlichen Aufsatz. Es wurden Spannungsverhältnisse zwischen Molekülen mit Botenfunktion gemessen und dadurch unsichtbare Reaktionen ausgewertet. Eine Person betrat den Raum und versengte dem Gummibaum ein Blatt mit Feuer, eine dem tierischen Schmerz vergleichbare Reaktion wurde nachgewiesen. Nun ist dies an sich noch nicht weiter verwunderlich. Interessanter wurde die Sache, als sich der Gummibaum sicher an die Person erinnerte, jedesmal, wenn sie ins Zimmer trat, schrieb er vor Furcht, und ließ sich dabei nicht von ähnlich ausschauenden Personen täuschen.
Dies ist wieder mal ein Bespiel dafür, wie die Wissenschaft mit umständlichen Prozeduren genau das herausfindet, was die Intuition des Volkes seit Jahrtausenden weiß. Die Erfahrungswelt der Pflanzen unterliegt einer anderen Zeitstuktur. Etwas ähnliches möchte ich in Bezug auf die Sprache postulieren. Wenn man im Grimmschen Wörterbuch schmökert, dem Opus magnum der deutschen Sprache, das erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhundert fertiggestellt wurde, ist die Dominanz der Dichtung unübersehbar. Im Mittelalter stüzt sie Sprache ganz auf die großen Epen und Chroniken, wobei die Trennung von Dichtung und Wahrheit meist unscharf ist. Luther und Goethe beherrschen weithin das Feld, aber auch bekannte und weniger bekannte Dichter vom Barock bis zum Romantik sind gut vertreten. Anonymes ist sehr oft gereimt: Bannsprüche und Verhaltensregeln, Trost und Hoffnung. Die Sprache beruf sich auf die Dichter, im Herkommen und im Gebrauch. Wenn jemand meint, dies sei heute anders, beruht dies einzig allein auf der Wahrnehmungsverzögerung, die wir vorhin am Beispiel der Pflanzen gezeigt haben.
Wenn nun das Grimmsche Wörterbuch den Eindruck erweckt, als sei die Verfaßtheit der Sprache geradezu aus dem Ausnahmezustand entstanden, so deutet dies auf eine souveräne Diktatur hin. Freilich wird jeder Dichters erst einmal versuchen, die Sprache vor Verfall und Vergessen zu schützen, im Schöpfungsakt ein Urritual wiederholen, auf dem alle Kultur beruht. Ob ihm dabei Souveränität zuwachse, sei nicht seine Sorge, dies wird in Sphären entschieden, an die unser Wille und Streit nicht heranreicht.

X

Nun gibt es auch die Theorie, die magische Macht konzentriere sich im Laufe der Geschichte, das Volk und seine Poesie verarmten notwendig zugunsten des großen Einzelnen. Der Zweck dieser Theorie ist recht leicht durchschaut, im allgemeinen will der Verfechter sein eigenes Werk aufwerten, sich selbst als Letzterbe, Kröner und Vollender erscheinen lassen. Dieser Tic ist modern, aber nicht das Verhältnis von Volk und Genius. Ich denke in diesem Zusammenhang immer an das Grimmsche Märchen vom Rumpelstilzchen. Als Kind habe ich vehement Partei für den Gnom ergriffen, der Stroh zu Gold spinnen kann und durch gemeine Spionage um seinen Lohn geprellt wird. Daß dem Kind der Prinzessin durch den einsamen Waldschrat Gefahr drohe, sah ich nicht. Vielmehr sah ich die Möglichkeit vertan, daß ein wildes Kind zum herrlichen Helden heranreifte, wie es in mancherlei Sagen geschieht.
Stroh zu Gold spinnen - dies ist ohne Zweifel ein Gleichnis für den Dichter. Stroh als die übliche Sprache, spröde und störrig, blaß und vergilbt, gedroschnes Stroh wird gern als Metapher für eine unnütze Rede verwandt. Dagegen ist das Gold das Symbol der Sonne als Urkraft des Lebens und der Könige. Kein Künstler verarbeitet ein so wohlfeiles Material und keinem gelingt diese königliche Strahlkraft, dies meint die Kunst des Rumpelstilzchens.
Aber Rumpelstilzchen wird schon vorher betrogen, denn das Gold verbreitet sich in der Welt, sondern kümmert in den Kammern des Königs wie heute die Feingold-Barren in der Nationalbank. Auch der König wird nicht seines Segens teilhaftig, sonst wäre die Torheit kaum erklärbar, das er eine Bauerstochter mit einer großsprecherischen und unverantwortlichen Mutter heiratet. Rumpelstilzchen stellt seine große Kunst in den Dienst sehr persönlicher Belange. Die Belange mögen verständlich sein, aber gleichwohl ist dies nicht die Sache des Dichters. Das Gold wendet sich gegen dem Schöpfer selbst, die Macht des Königs trickst ihn aus.
Der Dichter hat kein Recht an den Dingen, die er schafft. Er mag es beklagen, daß geringere Kunst und geringere Mühe größeren Lohnes würdig seien, ihm jedoch nur ein Gnadenbrot zugebilligt wird. Dies ist aber ganz in der Ordnung. im Staatshaushalt gehört der Kulturetat als erster gestrichen. Diese Mittel dienen ohnehin nur dazu, das Gewissen einer kulturlosen Herrschaft zu beschwichtigen, und schlimmer noch dazu, die echte Kultur durch Surrogate zu verdrängen. Der Minnesänger ist immer arm, so wie wir einst alle nackt vor Gottes Gericht hintreten.
Ich habe die Armut schon an anderer Stelle gepriesen, als Nähe zum Volk in Not und Freude. Welche Rolle die Armut im Evangelium einnimmt, ist hinlänglich bekannt. Ich glaube aber auch, daß die Armut Nähe zur Sprache schafft und damit für den Dichter als Dichter wichtig ist und nicht nur als Mensch.
Arm sein heißt, sich selbst ankleiden müssen, für Nahrung zu sorgen, für ein Nachtlager. Für Winterskälte vorzusorgen, Freunde zu haben für Krankheit und Unfall, Freude zu suchen, wo sie ohne Kosten zu haben ist, in Gottes Schöpfung. Armut schafft Unmittelbarkeit zu allem, dem Acker, der Straße, dem Dachstuhl, dem Regen. Das Gegenstück dazu ist die Welt der Medien. Hier stehen überall dienstbare Geister, Diener, Maschinen, Automaten, Firmen, die uns die Dinge in aufbreiteter Weise zukommen lassen und das Wissen um ihr eigentliches Wesen verbergen. Vielleicht ist schon das Familienglück als alleinerziehender Vater für Rumpelstilzchen zu viel des persönlichen Reichtums. Nietzsche sagt, ein verheirater Philosoph gehöre in die Komödie.
Mit Nietzsche möchte ich diese Betrachtung beenden. Mein Lieblingszitat von ihm lautet: Gedanken, die auf Taubenfüßen kommen, verändern die Welt. Dies ist nicht nur sehr fein beobachtet, sondern es ist auch mitten im Nihilismus die große Hoffnung. Das Gedicht ist das Gegenteil der Demagogenrede, der Pose und des Krönungsornats. Es ist ein subtiles Geflecht, dem die Leichtigkeit seines Materials zu zerflattern droht. Es lebt von der Nuance, und es versucht unseren Starrsinn auch nur in Nuancen zu erweichen. Es trägt eine andere Ordnung in unsere Welt, falterleicht, aber ein schrecklicher Engel, wenn sie in ihrer ganzen Herrlichkeit begriffen wird. Es dichtet an uralten Sagen fort, bewahrt sie, hegt sie und wappnet sie für den Tag, da sie unvermittelt ins kollektive Bewußtsein einbrechen.