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Ein Mittsommertraum

Ich sollte Kinder vom Neustädter Gymnasium abholen und machte mich zu Fuß auf den Weg. Dabei geriet ich in einen labyrinthischen Komplex von Altenpflegeeinrichtungen und Krankenhäusern, wobei sich überwachsene Ruinen mit modernen Glasbauten abwechselten. Mir fiel ein, daß ich mich hier schon einmal verlaufen hatte und mied einen Weg, mit dem ich unangenehme Erinnerungen verband. Überwachsene Türstufen führten zu einem Torbogen aus der Kaiserzeit, an den sich verwinkelte Mauern anschlossen, die teilweise in Gebäude übergingen. Ich trat in ein Krankenhausgebäude ein und schritt durch einen langen Gang auf den jenseitigen Ausgang zu. Dort befand sich ein kleiner Hof, über den man in einen weiteren Glaskasten gelangte. Dort ging es nicht weiter und ich ging einige Zeit im Kreise, bis ich von einer Krankenschwester angesprochen wurde. Ich klagte ihr mein Leid, daß man ohne Automobil mit Navigationsgerät nirgendwohin komme und ich doch die Kinder vom Gymnasium abholen müsse, wobei ich bereits in Verzug sei. Sie sagte, es sei zwar streng verboten, sie wolle mir aber helfen. Ich folgte ihr durch einen verwinkelten Gang, sie schloß eine Tür ins Freie auf. Von hier sei es nur wenige Schritte zum Gymnasium. Als sie die Pforte schloß, fand ich mich in sternloser Dunkelheit. Ich tappte vorwärts in der Hoffnung, irgendwo auf ein Licht zu stoßen. Schließlich sah ich einen Lichtschein hinter einem Lindenbaum und beschleunigte meine Schritte. Das Licht rührte von einem Bagger her, der einen Graben zog. Als ich mich bemerkbar machte, kam der Fahrer aus der Kanzel und erbat eine Zigarette. Ich spürte, daß ich meine aufkommende Panik unterdrücken mußte, um nützliche Auskunft zu erhalten. Also brachte ich das Gespräch auf das Gymnasium. Der Baggerfahrer erklärte mir, daß wir in unmittelbarer Nähe des Gebäudes stünden, aber hier alles von Gräben durchzogen sei, weshalb kein direkter Zugang möglich sei. Ich solle das Gymnasium von hinten umlaufen und mit einem kleinen Umweg zum Eingang gelangen. Ich folgte der von ihm gezeigten Richtung und kam auch bald in eine gut erleuchtete Gasse, in der freilich zur Nachtzeit niemand zu sehen war. Ich schritt munter aus und bemerkte bald rechterhand allerlei Hinweise auf den Schulbetrieb, Stundenpläne, Wandzeitungen und dergleichen. Die Gestaltung dieser Pläne und Informationen erinnerte freilich eher an Spielautomaten, aber derlei pädagogische Innovationen irritierten mich nicht. Ebensowenig, daß alle Eingänge verschlossen waren, denn nur der Haupteingang an der Vorderseite, die ich erst noch erreichen mußte, war öffentlich. Allmählich wurde die Gasse enger, und ich wurde gewahr, daß sie überdacht war. Einen Bürgersteig gab es nicht, zuweilen Fahrradständer und überall Leuchtreklame, allerdings keine besonders große. Schließlich begannen Boden und Wände zu schwanken und mich überkam der Verdacht, daß ich mich in einem Eisenbahnzug befinden könnte. Kaum hatte ich diese Möglichkeit erwogen, endete mein Weg an einer Glastür, durch deren schmutziges Glas man eine altertümliche Lokomotive erkennen konnte, die durch eine grüne Landschaft fuhr. Ehe ich die neue Situation weiter bedenken konnte, erschienen zwei Schaffner und forderten in barschem Ton meine Fahrkarte. Sie hatten offenbar bereits aus meinem Herumtappen geschlossen, daß ich keine besaß. Ich beschwerte mich, böswillig in einen Zug gelockt worden zu sein, erklärte, ich würde nicht zahlen und es auf eine gerichtliche Klärung ankommen zu lassen. Daraufhin erwiderte einer der Schaffner gleichmütig, dies sei ein Direktzug in die Sowjetunion und es würde sich vielleicht erst nach tausend Kilometern eine Möglichkeit bieten, mich an den Bundesgrenzschutz zu übergeben. Ich wurde kleinlaut und erklärte meine Bereitschaft zur Nachlösung, wenn man mich bei nächster Gelegenheit aus dem Zug lassen würde. Daraufhin wurde der Beamte sehr freundlich und verlangte zwei Euro und 25 Cent. Gleichzeitig hielt der Zug, ich übergab das Geld schon auf der Ausstiegstreppe stehend, ich gab zwei Euro und 50 Cent, verzichtete auf das Wechselgeld und den Fahrschein, froh, das Freie zu gewinnen. Es war wieder taghell. Die Station hatte kein Ortsnamensschild und bestand aus zwei menschenleeren Bahnsteigen. Ich ging durch die Unterführung auf einen Kiesweg zum Dorf, den Obstbäume flankierten. Zwei Herren kamen mir entgegen, denen ich mich anvertraute. Dabei sagte ich zunächst, ich müsse zurück nach München, berichtigte mich dann, daß ich nach Neustadt an der Orla müsse. Die Stadt war den beiden bekannt und sie wollten mir helfen, den richtigen Zug zu nehmen. Über Fahrkarten wurde nicht gesprochen, ich sah auch nirgends einen Automaten. Als wir gemeinsam wieder auf den Bahnsteig kamen, fuhr entgegengesetzt zur Richtung meiner Ankunft ein Zug ein, in dessen Frontfenster »Schloß Burgk« zu lesen war. Ich sagte zu meinen Begleitern, daß ich unmöglich von Burgk aus nach Neustadt laufen könne, schon gar nicht bei Nacht, wenn die Wege nicht zu finden seien. Offenbar war ich mir nicht recht bewußt, daß die Nacht bereits verflossen war. Die beiden nickten zu meinen Einwänden und empfahlen mir den Zug, der wenig später auf dem anderen Gleis in gleicher Richtung einfuhr. Der würde mich nach Neustadt bringen. Der Zug war in schmutzigem Reichsbahn-Grün mit weißen Lettern »ICE«, die allerdings nicht dem üblichen Bahnlogo entsprachen. Bei genauerer Betrachtung war er futuristisch. Der Einstieg erfolgte durch ein Aufklappen des Daches, ähnlich einem Ferrari-Sportwagen, den mir Westverwandte einmal als Matchboxauto geschenkt hatten. Ich hob das Dach, nahm sehr bequem Platz und hatte unter der Glastür prächtige Aussicht. Der Zug beschleunigte rasch auf eine hohe Geschwindigkeit, verließ schließlich die Gleise und bohrte sich durch einen Berg, wobei sich die Beleuchtung einschaltete und ich andere Fahrgäste bemerkte. Die waren derlei Fahrten gewohnt. Diese neue ICE-Technologie würde verschiedene Schienensysteme nutzen und auch Gebiete ohne Schienennetz überbrücken können. Als wir den Berg verließen, durchfuhren wir ein Straßenbahn-Depot und folgten dann Straßenbahnschienen mit unverminderter Geschwindigkeit. Schließlich endeten auch diese Schienen unvermittelt, und wir fuhren durch den Plothner Hausteich, wie mich einer der Mitreisenden aufklärte. Das war recht angenehm, man fühlte sich wie beim Baden, wobei ich nicht recht weiß, ob nun Wasser im Zug war oder nicht. Jedenfalls ging die Wasserdurchfahrt so rasch vorüber, daß ich keine genaueren Betrachtungen anstellen konnte. Ich trug Sorge, daß der Zug noch niemals angehalten hatte und wir uns in der Nähe von Neustadt befanden. Also suchte ich den Schaffner auf, der mir erklärte, wir würden in Linda nahe an Neustadt herankommen, wo er nach Querung der Landstraße anhalten würde. Bei der Einfahrt in Linda wunderte ich mich, daß wir von Osten kamen, der Plothner Hausteich aber westlich liegt. Die Trassierung war rätselhaft, aber von Linda würde ich gut zu Fuß nach Hause kommen. Als der Zug hielt, erklärte der Schaffner, ich müsse mich vor dem Aussteigen ausweisen. Ich wußte, daß mein Personalausweis zuhause in meinem Büro geblieben war und kramte nach einer alternativen Legitimationsurkunde. Dabei stellte sich heraus, daß in meiner Tasche unzählige Photographien, Ansichtskarten und auch Papiere anderer Personen waren, aber nichts, was mich ausweisen konnte. Der Schaffner verließ schließlich mit mir den Zug, damit dieser den Weg fortsetzen konnte, entließ mich aber nicht aus seinem Gewahrsam, bis die Identität festgestellt sei. Ich kramte weiter in einem Wust von Erinnerungsstücken, schließlich erklärte ich dem Schaffner, ich brauchte solche Papiere nicht, weil ich in Neustadt allgemein bekannt sei, ich sei Dichter und Verleger. Das wolle er gerne glauben, aber es sei nun einmal Vorschrift, daß er sich zweifelsfrei von meiner Identät überzeugen müsse. Also kramte ich weiter in der Tasche, bis diese ganz leer war. Zuletzt kam ein evangelisches Kirchengesangbuch zutage, das nämliche, das meine Großmutter einst bei ihren Kirchgängen benutzte. Der Schaffner kam mir entgegen, indem er feststellte, er würde meine ganze Geschichte glauben, wenn er nur überzeugt sei, daß diese Tasche mit all dem Inhalt mein Eigentum sei und ich dies nicht etwa irgendwo gestohlen hätte. Ich blickte ihn zweifelnd an. Er nahm das Gesangbuch und fragte, ob ich wisse, was darin stünde. Ich bemerkte, auf das Buch blickend, daß die Goldprägung an manchen Stellen vom Kunstleder abgeplatzt war. Natürlich wisse ich nicht alles, was in dem Buch stehe, aber etliches schon. – Nun, dann möge ich einmal loslegen. Ich sang:
Wer nur den lieben Gott läßt walten
Und hoffet auf ihn alle Zeit,
Den wird er wunderbar erhalten
Durch alle Not und Traurigkeit...
Der Schaffner gab mir das Buch zurück und wünschte mir einen guten Tag. Ich schritt frohgemut den Berg hinab, sicher, daß ich nun bald zurück zum Weltwitzer Weg und zu Hilke kommen würde.