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Testament eines Goldkorns

Ich bin kein besonders gesprächiges Wesen, und Novellen oder gar Romane zu verfassen, liegt mir nicht. Außerdem wäre es auch ziemlich unsinnig, wenn ich einen schriftstellerischen Ehrgeiz entwickelte. Die Sprache der Metalle ist anderen Wesen völlig unverständlich, und so ist es auch nicht verwunderlich, daß noch niemals jemand auf sie gehört hat. Meine Geschichte kann ich nicht einmal meinen Artgenossen erzählen, denn ich bin schon lange von ihnen getrennt und werde wohl nie wieder einen treffen. Was ich hier mit meinen Mitteln darstelle, erzähle ich mir selbst. Ich gebe mir damit die Illusion einer Identität, die ich schon verloren habe. Erst in langsamen Schritten, dann in rascheren, schließlich in solchen, deren Tempo meine Vorstellungskraft unendlich überragt. Ich hege sogar den Argwohn, daß es sich um Geschwindigkeiten handelt, von denen auch leichte und luftförmige Wesen, denen das Reisen naturgemäß näher steht, keine Vorstellung entwickeln können.
Das Gold gilt als edles Metall und als Symbol der Unsterblichkeit. In der Tat haben viele Pfeile der Vergänglichkeit keine Macht über es. Es wird von keinem Tiere verschlungen, von keinem Schmutze zersetzt. Es verbindet sich mit keinem anderen Elemente und ist dadurch auch niemals genötigt, diese Verbindungen zu wechseln. Es ist sich selbst genug. Deshalb sucht es auch niemanden anders, sondern läßt alles an sich vorbeigleiten, spiegelt es und in gewissen Zeiten meint man, es verschönt sie.
Von meinem Herkommen weiß ich nichts. Daß die Metalle in Magma aufstiegen und in der Kühle des Windes erstarrten, hat man mir erzählt. Daß es einst keine Bäche und Flüsse gab, oder diese zumindest an ganz anderen Orten westen, gehört für mich in das Reich der Mythen. Solang ich denken kann, lag ich in einem kleinen Fluß, den die Bauern wegen seines dichten Baumschattens die Schwarza nannten. Ich blinkte zwischen Kieseln und Geröll und ließ die Fluten über mich hinwegströmen.
Das Wasser des Flusses war für mich der Gegensatz schlechthin. Während meine gewaltige Schwere alle Ortsveränderung unmöglich und unwünschbar macht, ist die Bewegung dem Wasser das Dasein. Diese Bewegung ist aber keine blinde und selbstzerstörerische, sondern ein Kreislauf. Es heißt, das Wasser bilde die Landschaft, dies ist sehr treffend, denn in der Tat hat es einen großen Bildungsauftrag. Wenn ich mir nun von meinem eigenen Wesen Rechenschaft abgebe, so habe ich diese Kunst allein dem Wasser zu verdanken. Denn das Wasser hat teil an ganz unterschiedlichen Reichen, zwischen denen es vermittelt und die mancher im Murmeln des Flusses erkennen wollte.
Im harten Winter ist der Fluß dick zugefroren und bildet lichte und zugleich sehr harte Kristalle. Dabei ist diese Härte dennoch leichter als das flüssige Wesen und so setzt sich unter dem Panzer das Strömen fort. Eine vollständige Erstarrung soll es in den Gletschern der Gebirge und an den Polen geben. Man weiß aber, daß auch diese Starre nicht vollständig ist, vielmehr gibt es eine langsame und stetige Bewegung, ein gewaltiges Schieben und Vorwärtsdrängen. Es wurde mir sogar berichtet, daß in einer langen sommerlosen Zeit das Eis vom Nordpole bis in meine Gegend gedrungen sei, Klüfte geschürft habe und bei seinem Zurückweichen Mitgeschlepptes abgeladen habe.
Aber ich will hier nicht meine ganze Bildung ausbreiten, sondern mein eigenes Schicksal erzählen. Nur eines noch zum Wasser. Es erinnerte mich immer etwas an die Zeit vor dem ersten Schöpfungstage, also bevor Himmel und Erde getrennt wurden. Es durchreist nämlich nicht nur alle Regionen der Erde, sondern vermag sich durch Sonne zu verluftigen und in Wolken über den Himmel zu reisen. Wenn es schließlich als Regen kehrt, so sprudeln die Quellen und speisen die Flüsse. In einem kleinen Fluß wie der Schwarza erfuhr ich so das ganze Wesen der Welt. Ich erfuhr es völlig neidlos. Denn der ruhenden Selbstgewißheit der Metalle sind Ignoranz und Arroganz gleicherweise entfernt. Wir vertrauen darauf, daß Gott die Welt herrlich in ihrer Vielfalt gemacht hat und sehen dies fortwährend bestätigt. Die Rolle, die uns darin gewiesen ist, ist genauso unersetzlich wie die aller anderen Wesen.
Während das Wasser in seinem Kreislaufe fortwährend es selber bleibt, war dies bei den Algen und sonstigen Pflanzen der Schwarza ein anderes. Sie hatten eine mindere Selbstverständlichkeit und schienen mir in einem fortwährenden Kampfe zu überdauern zu liegen. Allerdings hatten sie für ihre Hinfälligkeit einen ausgleichenden Mechanismus entwickelt, für den ich irgendwann den Begriff der Fortpflanzung erfuhr. Sie entwickelten Dauer durch die immerwährende Erneuerung des einzelnen, sie gewannen aus dem Tode Leben, was der mineralischen Welt wesensfremd ist. So unterschieden sie eine Identität des Einzelwesens von der Identität der Gattung. Bei den Fischen war dies noch viel ausgeprägter. Denn hier endete das Einzelwesen auf ganz abrupte Weise, wobei gleichzeitig die Wiederentstehung von Fischen aus dem Laich ein viel größeres Wunder darstellt als das Fortsprossen der Pflanzen.
Durch die Fische lernte ich schließlich auch den Menschen kennen, zunächst freilich nur seine unteren Extremitäten. Die waren, wie ich später erfuhr, gegenüber seinen oberen harmlos. Durch den Menschen starben die Fische nicht mehr im Flusse, sondern wurden aus ihrer Heimat entführt. Dies hatte etwas Gespenstisches. Waren die Bewegungen der Fische sonst immer in Harmonie mit dem Wasser, so führte das Anbeißen an einen Köder zu einer ruckweisen Aufwärtsbewegung und einem höchst würdelosen Zappeln. Ich bemerkte über lange Zeit, daß nicht nur immer häufiger Menschenfüße durch die Fluten wateten, sondern in zunehmendem Maße das Erbeuten der Fische auch vom Ufer aus erfolgte. Die Bäume standen dort nicht mehr so eigenhold wie in früheren Zeiten. Manche wurden gefällt. Ein besonders scharfer Einschnitt war es, daß ganz in meiner Nähe eine Brücke gebaut wurde, unter der die Wasserfläche ganztags in tiefem Schatten lag und das Getrappel von großen Tieren zu hören war.
Später kamen auch wieder Menschenfüße in den Fluß, allerdings hatten sie es nicht auf die Fische abgesehen. Sie gruben nun auch ihre Hände ins Wasser, die ich auf diese Weise zum ersten Mal sah. In den Händen hatten sie ein zum Kreis gebogenes Flachholz, dessen Unterseite mit einem Geflecht aus Drähten verschlossen war. Sie nannten dies, wie ich später erfuhr, ein Sieb. Mit diesem Sieb fingen sie an, den Grund des Flusses abzuschürfen und nach kurzem Aufenthalt im Lichte wieder herabzukippen. Auf diese Weise richteten sie eine fürchterliche Verwüstung in unserer überkommenen Ordnung an. Das Obere geriet nach unten, die Orientierungspunkte verschoben sich. Der Fluß selber lachte über diesen Spuk, aber wir schwereren Elemente begannen uns Sorgen zu machen.
Ich erfuhr bald, daß diese Sorgen berechtigt waren. Als ich selber in das Sieb geriet, wurde ich nicht wie die übrigen Steine an anderer Stelle wieder ins Wasser geschüttet, sondern mit der Hand dem Kieselzeug entnommen und direkt ins Licht der Sonne gehalten. Dies war sehr eigenartig. Ich funkelte gewaltig, ja ich entdeckte mich selber neu, und ich merkte auch bei dieser Reise ins Licht mein ungewöhnliches Gewicht auf eine ganz neue Weise. Gleichzeitig kam ich mir ungeheuer hilflos und geschunden vor, insbesondere nachdem ich nun nach den Menschenhänden auch die Zähne dieses Riesen kennenlernen mußte. Sie waren sehr viel größer als bei Fischen und ließen mich meine Weichheit spüren. Seither weiß ich, daß ich nicht nur beständiger, leuchtender und schwerer bin als meine Umgebung, sondern auch viel weicher als die anderen festen Dinge.
Ich weiß nicht, ob seine Zähne dies dem Menschen geraten haben, jedenfalls trachtete dieser danach, meine Weichheit zur Flüssigkeit zu steigern. So überantwortete er mich dem Feuer, mit dem ich bis dahin nur auf indirekte Weise bekannt war. Ich wußte natürlich, daß die Sonne, die durch das Wasser gebremst wurde, ein riesiges Feuer war, das uns Licht und Wärme abgab. Auch wußte ich von der zerstörenden Kraft des Feuers, denn die Bäume am Ufer der Schwarza erzählten noch nach vielen Generationen von einem schrecklichen Waldbrand, dem einst so viele ihrer Brüder und Schwestern zum Opfer gefallen waren. Als ich nun selber ins Feuer geriet, hatte ich kaum Zeit, über diese Tortur nachzudenken. Allerdings erfuhr ich deutlich, daß mein edles Wesen auch gegen diese Zerstörungsgewalt gefeit ist. Ich wurde weich, formbar und filigran.
Die Schmiede war vielleicht eine Vergewaltigung, aber sie war für mich eine Stufe der Selbsterkenntnis. Ich trat aus der In-mich-Geschlossenheit heraus und entdeckte die Möglichkeit, selber Raum zu umspannen. Ich begann mich wie eine Pflanze aus dem Samenkorn zu entfalten. Nicht, daß ich davon geträumt hätte. Aber meine Möglichkeiten vergrößerten sich gewaltig. Ich spiegelte mich in meinen Teilen, ich verströmte mich in Bögen und Ringen, ich lernte die Potenzen meiner Struktur kennen. Man kombinierte mich mit ausgesuchten Steinen, die zugleich mit einem besonderen Schliff für den Hochgesang auf das Licht gesteigert worden waren. Alles geschah in einer Atmosphäre größter Hochachtung vor mir und meinen neuen Schicksalsgenossen mit Sorgfalt und Akribie. Das Licht und die flinken Bewegungen des Schmiedes hatten etwas Berauschendes und die Magie der Form vermittelte eine ganz eigene Art von Mystik. Als ich die Schmiede verließ, steigerte sich der Glanz fortwährend, bis ich den Thronsaal erreichte. Ich war, wie ich später erfuhr, zu einer Krone der Schwarzburger Fürsten verarbeitet worden, ich sollte Glanz und Hoheit des ganzes Landes versinnbildlichen. Unter diesen Umständen wäre es mir egoman erschienen, mich nach dem beschaulichen Dasein im Flusse zurückzusehnen. Nach der Krönungszeremonie lag ich auf Samt gebettet bei lauter edelen Dingen in der Schatzkammer, die nicht nur dauernd bewacht wurde, sondern, die bewachen zu dürfen, wie ich später erfuhr, eine besondere Ehre darstellte. Nach der Aufregung meiner Aufspürung, Umschmelzung und künstlerischen Verarbeitung folgte nun wieder eine lange Zeit der Konstanz. Sie war kurz, gemessen an meinem unaufgeregten Funkeln im Fluß, aber doch sehr lang, gemessen an allem, was darauf folgen sollte. Die meiste Zeit wurde ich lediglich gepflegt, jedes glanzmindernde Staubkörnchen wurde mit sanfter Hand entfernt, Wärme und Feuchtigkeit im Raume wurden sorgsam überwacht und niemand sprach eine lautes Wort in meiner Gegenwart. Die Schatzkammer war überschaubar und ich freundete mich mit Ringen, Halsketten, Schwertern und Kreuzen an. Sie hatten oft abenteuerliche Geschichten zu erzählen, die sich sehr von meinem bisherigen Bildungshorizont unterschieden. Neuzugänge und Abgänge waren selten, und so machte sich unter uns eine gewisse konservative Gesinnung breit. Was ich am meisten vermißte, war der Wechsel der Jahreszeiten, die tiefen Töne, die sich im Schwingen der Fischflossen ausdrücken und auch die schäumende Aufgeregtheit des Flusses während der Schneeschmelze im Gebirge. Aber ich nahm mein Los als gottgewolltes und tief notwendiges, um Ordnung, Fleiß und Gedeihen des Landes zu garantieren.
Die Eintönigkeit in der Schatzkammer wurde eigentlich nur durch das traurige Ereignis des Ableben eines Monarchen durchbrochen, die bald darauf erfolgende Krönung des Nachfolgers brachte mir gesteigerte Aufmerksamkeit und manchen Ortswechsel. Gleichwohl waren die Wege zwischen Schatzkammer, Kirche, Marktplatz und Schloß nur kurze, und wenn Metalle weinen könnten, so würde ich das wohl jetzt bei den Erinnerungen tun. Der Jubel des Menschenvolkes war in anderer Weise gewaltig als die Sturzfluten des Frühlings, und die ausgefeilte Musik der Geigen, Harfen, Flöten, Orgeln und Cembali erzählte unendlich subtiler als das Murmeln der Schwarza.
Mein letzter ordentlicher Auftritt hätte mir schon zu denken geben müssen. Das Geschlecht derer von Schwarzburg-Sondershausen war ausgestorben, und Fürst Günther mußte nun die Herrschaft in Personalunion übernehmen. Es wurde damals in der Schatzkammer lebhaft diskutiert, wie es Gott zulassen könne, daß ein Fürstengeschlecht ausstürbe. Aber es kam bald schlimmer. Es kam das unheimliche Wort vom Steckrübenwinter auf, was uns als Metalle, die keine Nahrung brauchen, natürlich nicht unmittelbar tangiert. Aber die Abgänge in unserer Kammer häuften sich und Zugänge hatte es schon lange keine mehr gegeben. Schließlich wurde die Ordnung durch eine Vergrößerung der Abstände empfindlich verändert, um den Eindruck zu vermeiden, daß es bereits empfindliche Leerstellen gab. Die Wachen vor der Kammer wurden wortkarg und versteinerten Blicks. Dann wechselten sie häufig und auch ihre Kleidung brach mit der Tradition. Immer wieder drang undefinierbarer Lärm durch die Hallen. Schließlich tauchten Personen auf, die ganz und gar nicht zu denen paßten, die wir im Laufe der Jahrhunderte gesehen hatten. Ihre Kleidung war bar aller Festlichkeit und Würde, die Männer trugen keine Bärte und die Haare sehr kurz. Sie sprachen eine Sprache, die sich von dem gewohnten Deutsch erheblich unterschied. Immer wieder erschienen Gruppen solcher Barbaren, die offenbar über unsere Zukunft debattierten, aber mit den Lakaien des Hofes keinerlei Ähnlichkeit hatten. Schließlich erfolgte eine ausgesprochen würdelose Prozedur. Zwei Herren gingen umher, verzeichneten jedes Stück nach ausführlicher Begutachtung in einem großen Kontorbuch und hefteten an das Stück einen Faden mit einem Namens- und Nummernschild. Ich habe mich damals geweigert, zu lesen, was auf meinem Schilde gestanden haben mag und kann es darum heute nicht mir selber erzählen.
Es gab dann mehrere größere Abtransporte. Die Lücken durch eine Neuanordnung zu verschleiern, gab man sich nun keine Mühe mehr. Die Heizung wurde nicht mehr betrieben und mancher Goldreif beschlug sich matt. Das störte niemanden mehr. Unsere Gespräche verstummten. Wir begriffen, daß die früheren Inhalte sinnlos geworden waren, und das jetzige Geschehen erschien uns zu unheimlich, um thematisiert zu werden. Die Kammer war schon ziemlich leer, als ich schließlich selber geholt wurde. Ich kam in einen Stahltresor, ein Gefängnis, gegen das man den Hungerturm des Mittelalters als Luxusquartier ansehen muß. Meine Mitgefangenen waren ausschließlich aus Papier, einem Material, daß ich bisher nur in der Form der Saaltapeten kennengelernt hatte. Mir war es damals schon als Verlust gegenüber Samt und Seide erschienen, und so waren meine Vorurteile nicht die besten. Aber auf diesem Papier waren nicht etwa japanische Idyllen zu erkennen, sondern meist eine ziemlich plumpe und überdies martialische Symbolik, wobei mir die Häufigkeit der Ziffer Null besonders auffiel. Die Papiere rochen nach Schweiß und schlechten Gewohnheiten.
Meine zweite Begegnung mit dem Feuer war der ersten genau entgegengesetzt. Man hatte schon vorher in mehreren Anläufen die Steine aus meinem Rund herausgebrochen. Bei jedem dieser Vorgänge waren jede Menge Papiere beteiligt, manchmal gab es auch recht laute Diskussionen, die mich argwöhnen ließen, ich sei unter die Räuber gefallen. Schließlich ging alles sehr schnell. Ich wurde eingeschmolzen und nicht etwa kunstfertig gestaltet, sondern zu einem geometrisch exakten Barren verarbeitet, in den eine Nummer und ein Wappen eingeprägt wurden. Danach war ich einige Zeit immerfort auf Reisen in Eisenbahnwaggons. Neben mir lagen viele Goldbarren, aber Gespräche gab es keine, nicht nur, daß niemand mit mir sprach, dies geschah ja auch in früheren Zeiten selten, auch sonst unterhielt sich niemand in diesem Wagen, nur die Fliegen summten, wenn sie auf den Paletten Schweiß oder Unrat gefunden hatten. Wir wurden eingelagert, umgeladen, wieder durch die Gegend gefahren, es erschien mir alles als Spiel ohne Sinn und Zweck. Wenn wir einen Fluß überquerten, hoffte ich, die Brücke würde zusammenstürzen, der Wagen im Sturz zerbersten, und wir Goldstücke würden heimkehren in die Heimat des Flußbettes. Es würde gewiß nicht die Schwarza sein, nicht mal ein anderer so kleiner murmelnder Strom, aber das war mir inzwischen egal. Wenn doch bloß die schreckliche Reise ein Ende fände. Aber das Eisenbahnunglück blieb aus und die Reise setzte sich fort. Wir wurden gezählt, gewogen, untersucht. Die Welt erschien mir als eine einzige Ratlosigkeit.
Schließlich kam ich mit vielen anderen Goldbarren in eine Art Bunker, den französisch sprechende Soldaten bewachten. Dort waren schon vor unserer Ankunft viele Barren gelagert, von denen wohl einige schon seit langer Zeit heimisch waren. Es gab wieder Nachrichten. So erfuhr ich schließlich, daß ich im Zuge von Reparationszahlungen in die belgische Nationalbank gekommen sei und dort dazu diene, Stabilität und Werthaltigkeit des belgischen Geldes zu garantieren. Auch wenn meine Behandlung etwas ganz anderes nahelegte, so schien diese Aufgabe doch von meinem hohen Wert überzeugt zu sein, was mir schließlich eine gewisse Befriedigung verschaffte. Goldkörner sind keine Revolutionäre, sie sind von ihrer Schwere bestimmt und richten sich unter allen Umständen ein. Wenn sie durch ihr bloßes Dasein eine Stabilität garantieren sollen, so erscheint ihnen das durchaus angemessen, wenn ihnen auch das Wesen des Geldes mit seiner Unverbindlichkeit und substanzlosen Flüchtigkeit naturgemäß fremd bleiben muß. Der Bunker war natürlich keine Schatzkammer, aber auch kein stinkender Waggon, der über die Schwellen ratterte. Über das Fehlen der Jahreszeiten beschwerte ich mich schon lange nicht mehr. Ich war froh, in leidlicher Ruhe träumen zu dürfen.
Schließlich kam das Gerücht auf, man habe uns privatisiert, der belgische Staat habe das Gold privaten Eigentümern übergeben, um es vor einer Beschlagnahme im Kriege zu schützen. Mir erschien die Geschichte ziemlich abenteuerlich. Wenn der Staat sein Gold nicht schützen könne, wie sollte das dann ein Privatmann schaffen? Da ich selber aus deutschen Landen stammte, teilte ich natürlich die Abscheu der meisten Barren gegen eine mögliche deutsche Beschlagnahme nicht. Allerdings hegte ich auch keineswegs die Illusion, die deutsche Besatzung werde mir die Heimkehr nach Rudolstadt oder gar in die Schwarza ermöglichen. Eher erwartete ich ein weiteres Reise-Martyrium.
Die Odyssee begann schon lange vor dem Eintreffen der Deutschen. Zunächst wurden wir von Ostende nach Bordeaux verschifft, wo wir in den Kellergewölben der Banque de France auf ruhigere Zeiten warten sollten. Da die deutschen Truppen jedoch schneller in Frankreich voran kamen, als man gedacht hatte, sollte das Gold über den Atlantik gebracht werden. Der Hilfskreuzer erreichte jedoch Amerika nie, sondern legte im Hafen Dakar, also im französischen Kolonialgebiet, an. Das Gold kam zunächst in die Militärbasis Thiès, und weil dies wegen der Meernähe zu gefährlich schien, nach Kayès, mitten in der Wüste Sahara.
Als Frankreich und Deutschland einen Waffenstillstand vereinbarten, übergab Frankreich an die deutsche Reichsbank das belgische Gold als Sühnopfer und der Premierminister setzte die Zustimmung der Banque de France durch. Für uns hieß dies, daß wir zunächst nach Algerien und dann nach Marseille verbracht wurden. Von dort transportierte uns die Reichsbank per Eisenbahn nach Berlin in ihre Kellergewölbe. Auch dort konnten wir nicht bleiben, weil Hermann Göring in seiner Eigenschaft als Beauftragter des Vierjahresplanes uns beschlagnahmte. Wir wurden dann in der Preußischen Staatsmünze eingeschmolzen und neu beprägt.
Nun war ich zwar wieder in Deutschland, aber an der Spree gab es keine Nachrichten von der Schwarza. Man kann in den großen Strömen von den Nebenflüssen hören, aber durch künstliche Kanäle funktioniert das nicht. Ich vermute mal, daß sie einfach zu leblos sind. Immerhin erfuhr man auch an der Spree, daß der Rußlandfeldzug ins Stocken geraten war. Das Deutsche Reich fing nun an, auch dort Waffen zu kaufen, wo sie bislang als zu teuer gegolten hatten, in der Schweiz. So kam ich an den Zürcher See und wurde gleich wieder einmal umgeschmolzen. In diesen Zeiten war offenbar jedermann daran interessiert, die Herkunft des Goldes zu verschleiern.
Bald zeigt sich, daß ich nun einem anderen Zwecke zugeführt werden sollte. Ich erfuhr, daß die Schweizer Techniker einen ganz anderen Aspekt des Edlen schätzten, als es das Symbol der Sonne in der Fürstenkrone oder der Wertbeständigkeit in der Nationalbank war. Sie schätzten es, daß ich dem elektrischen Strom kaum Widerstand entgegensetze, also bei Kontakten dafür sorge, daß die Spannung nicht abfällt. Dieser Gedankengang ist bereits an sich ein ungeheurer Abfall von dem, was in den Jahrtausenden Wesen, Idee und Adel des Goldes ausgemacht hatte. Während auch in den filigransten Verästelungen der Krone das Gold immer für das Beständige und Unerschütterliche genommen wurde, sollte es nun ein Medium sein, für den Geist der Elektrizität, für das Unkörperliche schlechthin, für ein Steuerndes, dessen Universalität sich der Gleichgüligkeit darüber verdankt, was es denn wohin und wozu steuere. Daß auch das gutgläubigste Goldkorn in einer solchen Verwendung keinerlei Würde entdecken kann, scheint evident.
Der Steuerungsmechanismus, der so viel Gold an seinen Kontakten verdiente, war für Raketen von ungeheurer Zerstörungskraft vorgesehen, wie ich später erfuhr. Ob bereits bei der Herstellung feststand, wessen Armee später über diese Waffe verfügen sollte, entzieht sich meiner Kenntnis, ich weiß nur, daß ich wieder eine unendliche Reise anzutreten hatte. Sie führte mit der Bahn nach Italien, dann mit dem Schiff in die Türkei, schließlich per Flugzeug nach Schweden und dann wieder mit der Bahn über Finnland nach Rußland. Es war in dieser Zeit viel vom Atom die Rede, und daß dessen Spaltung nicht nur ganze Länder verwüsten könne, sondern auch die Metalle in andere umwandle, was die Alchemisten einst so lange und so erfolglos versucht hatten. Der Mensch hatte nun also auch die Grenzen des Edelmetalls herausgefunden, das er zugleich verachtete, aber auch begehrte wie niemals zuvor. Immerhin folgte nun eine letzte Zeit der Ruhe, die in den Geschichtsbüchern der Menschen als sogenannter Kalter Krieg verzeichnet ist. Die Raketen standen bedrohlich aufgereckt, aber sie wurden nicht abgeschossen. Im Innern war es ähnlich beschaulich wie in dem belgischen Bunker oder in der schwarzburgischen Schatzkammer. Zwar gab es hier weder Barren noch Ringe und Halsketten. Dennoch hatte ich eine illustre Gesellschaft. Zunächst einmal erfuhr ich, daß zahlreiche Anwesende vom chemischen Standpunkt noch edler waren als ich und ein noch höheres spezifisches Gewicht aufwiesen, etwa Platin, Osmium, Iridium. Außerdem waren die sogenannten seltenen Erden reichlich vertreten, Metalle, die mir in der Schwarza oder auch bei Hofe völlig unbekannt geblieben waren. Und schließlich die strahlenden Elemente, vor allem das Uran mit seinen höchst unterschiedlichen Isotopen. Während ich mir das erzähle, wundere ich mich selbst, wie vielgestaltig die Welt ist und wieviel ich davon erfahren durfte und mußte.
Aber auch diese Ruhephase ging zuende. Es folgte wieder eine unglaubliche Hektik. Plötzlich hieß es, die stolzen Raketen seien veraltet und müßten verschrottet werden. Wir Steuerteile meinten hochnäsig, es ginge dabei vor allem um die Trägerteile oder auch um die Sprengköpfe. Damals wußte ich noch nicht, daß das Veralterungssyndrom die Elemente der Information und Steuerung ganz besonders attacktiert. Man sprach von Technologiezyklen. Kurzum, die Bauteile seien vollkommen zu zerstören. Wertvolle Materialien würden verkauft.
Dies fiel in eine Zeit, wo in Rußland besonders viel ins Ausland verkauft, viele sagen auch, verschleudert, wurde. Ich kam jedenfalls bei diesem Ausverkauf in die Vereinigten Staaten von Amerika. Daß dazu ein Ozean zu überqueren war, merkte ich kaum, denn inzwischen wurden solche Dinge immer mit dem Flugzeug transportiert, und dies kannte ich ja schon von meiner Reise von der Türkei nach Schweden. An den amerikanischen Kontinent habe ich die wenigsten Erinnerungen, denn nun vollzog sich alles in einer solchen Eile, daß sich kaum Gelegenheit gab, Gerüchte zu vernehmen oder Glaubwürdiges von Unglaubwürdigem zu scheiden. Mein Verwendungszweck als Kontaktstoff in Raketensteuerungen blieb erhalten, nur daß er diesmal angeblich einem friedlichen Zwecke dienen sollte, der Erforschung der Galaxis. Dies bedeutet keine Eisenbahnschwellen, sondern ein stures Rasen durch den interstellaren Raum. Wie weit die Rakete noch fliegen wird, ob sie auf eine Kreisbahn gelangt oder verglüht, ist vollkommen gleichgültig. Ich weiß, daß ich die Schwarza nicht wiederfinden werde. Ich weiß, daß ich kein Edelmetall bin. Es gibt nichts Edles auf der Welt.