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Europa

Motiv und Gestalt

I

Hermes ist der populärste unter allen griechischen Göttern. Sein Name wird auf das griechische Wort für »Felsen« zurückgeführt, was ihn in eine Nähe zu dem Jünger und Apostel Petrus bringen könnte. Allerdings ist das maximale Gegenteil eines Fixpunktes und Stützpfeilers, er steht für das Unbeständige, Lebendige, Nicht-zu-Fassende. Die einzige flüssige Metall wurde nach ihm benannt, und jeder, der einmal ein Fiebertermometer zerbrochenen hat, weiß, wie schwer sich die gefährlichen Kügelchen einfangen lassen, die durch die Gegend springen. Die Alchymisten trauten diesem Element am ehesten zu, daß es sich in Gold verwandeln lasse. Auch der ägyptische Stammvater der Alchymie, Thot, wird als Hermes bezeichnet. Mit Hermetik, Hermeneutik und Hermaphrodit ist er noch heute Bestandteil der Wissenschaftssprache.
Als die Germanen die römische Woche übernahmen, wurde Hermes mit Odin oder Wotan gleichgesetzt. Von allen Pantheon-Gleichsetzungen kann diese am wenigsten überzeugen. Zwar hat Odin mit Hermes gemein, daß er schwer zu deuten ist und Wege geht, die andere Götter gewöhnlich meiden, aber abgesehen davon, daß Odin nicht als jugendlich dargestellt wird, kann man sich Odin weder bei Schelmenstreichen noch bei Kupplerdiensten vorstellen, wie sie Hermes eignen. Richard Wagner hat in seinem »Ring der Nibelungen« dem Feuerwesen Loge Züge von Hermes verliehen, und in Alberichs fabrikhafter Schmiede erscheinen und agieren Wotan und Loge geradezu wie Zeus und Hermes bei zahllosen Abenteuern.
In der Fabulierkunst der Griechen übernimmt Hermes für Zeus allerlei Dienste, die es dem Spötter leichtmachen, dem Olymp als ganzem allen Respekt zu verweigern. Die Kuppelei läßt ihn weibisch erscheinen, und die Dichter zeigen mit Vorliebe, wie Hermes an Verwicklungen und Verwechslungen unbändige Freude empfindet. So im »Amphitrion«, einem Stoff, an dem sich zahllose Dichter von der Antike bis zur Gegenwart versucht haben. Freilich kann jeder, der die Kleistsche Version kennt, bei allen anderen nur gähnen, denn nur bei Kleist ist die Komik niemals aufgesetzt oder gestellt, sondern urtürmlich und von einer metaphysischen Heiterkeit.
Im Europa-Mythos, dem wir uns fürderhin widmen wollen, übernimmt es Hermes, eine Rinderherde in die Nähe der am Strand von Sidon spielenden Europa zu treiben, damit sich der in einen Stier verwandelte Zeus unverfänglich nähern kann. Die Entführung der phönizischen Königstochter ist allgemein bekannt, weniger jedoch, mit wieviel Täuschung und Sorgfalt sie ausgeführt wurde. In Ovids Metamorphose erscheint die Herde Agenors Tochter zunächst bedrohlich, dann faßt sie Vertrauen zu einem Stier in blendendem Weiß mit kleinen Hörnern. Diese sollen wie leuchtende Edelsteine ausgesehen haben. Auch dieses Attribut des Wettergottes verweist auf Hermes, als Finder des »Steines der Weisen« gilt auch Hermes Trismegistos. Hermes schafft also nicht nur das Bedrohungsszenarium, sondern zeichnet auch den Liebenden so aus, daß ihm die Begehrte mit Blumen und Kränzen huldigen muß. Dies nächste Täuschung besteht in einem scheinbar ziellosem Herumtraben, aber das Ziel ist das Meer. Als die Prinzessin dies bemerkt, ist es bereits zu spät. Die Wellen schlagen über ihr zusammen, und sie muß sich an den Hörnern des Stieres festhalten, um nicht zu ertrinken. Die Gefährtinnen schreien am Ufer, aber der Stier trägt die Geliebte unbeirrt nach Kreta.
Der erste Akt im Mythos Europa spielt am Ufer, an der Grenze von Land und Meer. Dieser Aspekt scheint mir wesentlich. Denn die Polarität von Land und Meer ist für Europa konstitutiv. Auf den asiatischen Steppen kommen die Hunnen, übers Meer die marodierenden Wikinger. Aber die Brandschatzer werden auch seßhaft und bauen neue Kulturen. Die Normannen besetzen Sizilien und bingen ein eigenständigen Königreich hervor. In Symbiose aus byzantinischen, arabischen und normannischen Traditionen entsteht eine Blüte der Kunst, die noch unter den Staufern, die den Normannenkönigen folgten, andauert.
In den achtziger Jahren schrieb ich ein Gedicht zum Raub der Europa, das Eingang in die Sammlung »Weckruf und Mohn« fand. Die Verschleppung des Mädchens war für mich schon damals ein kasses Bespiel für Brünnhildes Ausruf im dritten Akt des »Siegfried«: »Verwundert hat mich, der mich erweckt!« Es ist dies ein Muster aller Schöpfung: am Anfang steht eine Gewalttat, ein Frevel, eine unerhörte Störung des Gleichgewichts. Die Prinzessin spielt mit Rosenkränzen, harmlos und arglos, dann überwindet sie das gewaltige Meer und steht auf Neuland. Mein Gedicht legt den Schwerpunkt darauf, daß dies nicht nur Schmerz und Verletzung bedeutet, sondern eine ungeheure Auszeichnung. Denn der Gewalttäter ist ein Gott, und nicht irgendeiner, sondern der Herr des Himmels.
Es ist heute Mode, die Opfer dadurch ehren zu wollen, daß die Täter, die Verursacher ihrer Leiden, geschmäht werden. Dabei nimmt man den Opfern jedoch den Sinn des Opfers. Wenn das Opfer unentschuldbar ist, so ist es auch sinnlos. Nur wenn man Opfer und Täter wie Halm und Schnitter betrachtet, als Teilnehmer in einem größeren Zusammenhang, kann man den Sinn des ganzen ins Auge fassen, und der lautet: Schöpfung. Wenn man also meint, der Raub der Europa diene nur dazu, die Geilheit des ehegefrusteten Zeus einen Augenblick zu stillen, so schaut man zu kurz. Niemand würde Zeus Tempel weihen und Geschenke darbringen, diente sein Walten nur seinem Vergnügen oder seiner Eitelkeit. Sein Wesen, und allein dies ist göttlich, ist das Schöpferische. Als Liebhaber ist er ungemein fruchtbar. Diese Liebe schafft Felsen, Inseln und Kontinente.
Es heißt, der Stier mit Europa auf seinem Rücken sei den ganzen Tag und die ganze Nacht durchs Meer geschwommen. Als Europa am unbekannten Strand vom Rücken gleitet, verschwindet der Stier und ein herrlicher Mann stellt sich als der König von Kreta vor und bittet sie, in den Stand einer Königin zu treten. Sie klagt über den Verlust ihrer Eltern, doch die schaumgeborene Göttin Aphrodite erscheint und erklärt ihr, daß dies alles nach dem Willen der Götter geschehe. Für die Schaffung des neuen Erdteiles ist also noch ein Ruf aus dem Reich der Mütter nötig. Deutlich wird, daß es sich hier nicht um eine Einzeltat des Zeus handelt, sondern um eine Setzung, an der mehrere Götter beteiligt sind. Auch Eros soll in Begleitung von Aphrodite erschienen sein. Eros ist freilich nicht nur ein Knabe, sondern auch der älteste Gott. Hier zeigt sich, daß es sich um ein Geschehen von großer Tragweite handelt.
Herodot schrieb im vierten Buch seiner Historien, kein Mensch wisse, ob Europa »vom Meere umflossen« sei. Er betrachtete diesen Kontinent als den größten, da er sich Asien bis zum Indus vorstellte, den Alexander erreicht hatte, und Afrika bereits in der Antike umsegelt wurde. Unermeßlich seien die undurchdringlichen Wälder Europas. Soweit man auch der Donau flußaufwärts folge, ein Ende des Dickichts sei nirgends absehbar. Obgleich man später Europa kartographierte und als den bescheideneren Teil der eurasischen Landmasse abqualifizieren mußte, hat sich der Mythos des undurchdringlichen Waldes erhalten.
Es wird auch erzählt, daß der Raub der Königstochter unabsehbare Fahrten und Abenteuer provozierte. Die Brüder suchten sie unentwegt und erfolglos. Phönix durchwanderte Lybien und erreichte den Ort, an dem später Karthago errichtet werden sollte, Cilix ging nach Silizien, Phineus zu den Dardanellen, Thasus nach Olympien und auf die Insel Thasos. Kadmos jedoch, der berühmteste Bruder Europas, fuhr nach Rhodos, Thrakien und Delphi, um das Orakel zu befragen. Dort erhielt er den Rat, eine Kuh zu kaufen und ihr so lange zu folgen, bis sie erschöpft zusammenbreche. Kadmos erwarb eine Kuh mit dem Zeichen des Vollmonds auf ihren Flanken, ein Geschöpf der Großen Muttergöttin, und trieb sie durch ganz Böotien, bis sie todmüde niederfiel. An eben dieser Stelle gründete er die Stadt der Sphinx: Theben.
Von Anfang an steht also Europa in der Spannung zwischen Ost und West, Orient und Okzident, Morgenland und Abendland. Mit dem Aufstieg Roms verlagert sich die politischen Schwergewichte in den Westteil des Mittelmeeres, mit Karl dem Großen nach Aachen. Während die Missionare die Kunde vom Kreuzestod des Galiläers nach Nordeuropa bringen, gelingt es den Erben Mohammeds den gesamten Orient und Nordafrika wieder dem Christentum zu entreißen. Als mit Byzanz die Hauptstadt des östlichen Christentums fällt, werden Okzident, Christentum und Europa weitgehend synonym.
Damit gerät auch der Namensmythos an die Peripherie. Was jedoch nicht peripher wird, ist die Polarität von Land und Meer, gerade bei diesem Kontinent. Denn Europa ist ein ungemein gegliedertes Gebilde. Die Ostsee und das Schwarze Meer ragen tief in das Landesinnere und auch das Kaspische Meer wird aufgrund seiner Größe seit der Antike als »Meer«verstanden. Das Mittelmeer ist gerade an seiner Nordküste von gewaltigen Halbinseln geprägt, und Italien ist geradezu ein Symbol der Omnipräsenz des Meeres. Das Abschmelzen des arkischen Eises bringt heute neue Wasserstraßen im Norden, die schon umkämpft werden.
Der geographischen Gliederung entspricht die ethnische und kulturelle. Immer wieder wurde die unübersehbare Vielfalt als das besondere Markenzeichen Europas ausgemacht. Europa ist die Weltgegend der Erfinder und Entwürfe. Europäer kolonisierten die Welt. Mögen die Kolonialreiche auch geschwunden seien, so sind doch die politischen und wirtschaftlichen Muster der Welt weitgehend europäischen Ursprungs. Auch die sogenannte »Neue Welt« hat nur dort Europa Paroli bieten können, wo sie von europäischen Einwanderern gestaltet wurde.

II

Mit dem Verströmen europäischen Trachtens in die Welt, scheint jedoch das verloren gegangen zu sein, was einstens die Vielheit in Europa einte: die mittelalterliche Ökumene des Christentums. Dies bekagt zu Beginn des 19. Jahrhunderts Novalis, der Visionär unter unseren Dichtern, in seiner fragmentarischen Rede »Europa«. Für den besonderen Rang dieser Rede spricht der Umstand, das sie bis zur vierten Auflage der »Schriften« unterdrückt wurde und später erneut. Die Rede war zunächst für eine Veröffentlichung im Athenäum bestimmt. Tieck zufolge wurde die Rede im Freudeskreis als zu schwach empfunden, die Blößen des Textes seien leicht zu entdecken. Schelling schrieb als Antwort ein satirisches Gegengedicht. Dann sollten Text und Satire als Gegenüberstellung im Athenäum erscheinen. In Abwesenheit Novalis' wurde Goethe zur Veröffentlichung befragt und der riet gänzlich davon ab. Die Rezeption ist somit seit Beginn von Unverständnis geprägt.
Ausgangspunkt der Rede ist die Situation nach dem Tod von Papst Pius VI. Eine Neuwahl wurde durch die Franzosen verboten, die überdies mit Krieg drohten. Novalis sieht also den Kontinent an einem Kairos, der die Möglichkeit zu einem besseren Zeitalter beinhaltet. Regeneration und Frieden sind für Novalis nur durch eine neue Religion möglich. Nach den aristotelischen Gattungen der Rhetorik handelt es sich um eine »oratio deliberativa«, einer Rede, die ein bestimmtes, im allgemeinen geschichtsbestimmendes, Handeln raten soll. Sie kann in das für Novalis typische Triadenschema gebracht werden: auf eine glückliche Urzeit folgt eine Phase des Verfalls, dann aber die Wiederherstellung des Verlorenen auf höherem Niveau.
Die glückliche Urzeit ist für Novalis das frühmittelalterlichen Christentum. Der Gattung entsprechend erfolgt die Dastellung stilisiert, aber in historischer Glaubwürdigkeit. Novalis konzentriert sich auf die Einheit im Glauben. Elemente des Christlichen sind die Liebe zur Kirche, die Heiligenverehrung, der Reliquienkult, die Wallfahrten und sogar die päpstliche Zensur, die zur Wahrung der religiösen Einheit legitimiert wird. Im weiteren Verlauf werden jedoch die Geistlichen träge und büßen ihre Gelehrsamkeit ein. Durch die Profanisierung des Wissens werden »Glaube und Liebe« durch »Wissen und Haben« ersetzt. Rationalismus und Profitstreben sind die Folge. Der Zerfall verdichtet sich mit der Reformation. Diese wird zwar als legitime Reaktion auf Mißstände begrüßt, jedoch führt sie nicht in ein neues Gleichgewicht. Vielmehr wird das berechtigte Protestieren zur permanenten Haltung. Zu verurteilen ist die Zerstörung der Einheit der Kirche, was zur Herrschaft der weltlichen Politik über die Kirche führt. Außerdem die philologische Bibelbetrachtung Luthers, die den lebendigen Geist Kirche erstarren läßt. Es kommt zu einem Haß gegen den katholischen Glauben, der über mehrere Stufen zum allgemeinen Haß auf die Religion führt.
Die Gegenreformation wiederholt die Fehler der Reformation und scheitert an einem Mangel an Phantasie und Gefühl. Auch in der Aufklärung setzen sich Elemente durch, die den Zustand weiter verschlimmern und eine weitere Abkehrung von Sinnenhaftigkeit und Gotteskindschaft bewirken. Die Welt wird zu einem seelenlosen Mechanismus. Mit der Französischen Revolution scheint dem Redner diese Entwicklung zu einem Kulminationspunkt gelangt, der Zwang, die Religion ins Private zu beschränken, könne zu einer neuen Innigkeit und Eingebundenheit führen und damit zu einer geistigen Befruchtung. »Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion«, behauptet der Sprecher. Er sieht in dem Schrecken die Katharsis und eine notwendige Voraussetzung für die Neuentstehung als ordnende Kraft. Er mahnt, in den Lauf der Geschichte nicht eingreifen zu wollen, da sich der rechte Zustand von selbst einstelle, wenn man der Geschichte die Möglichkeit dazu ließe.
Novalis starb wenig nach der Rede und konnte nicht mehr erleben, daß die Ereignisse in Frankreich keineswegs die Wende in dem beschriebenen Prozeß, sondern eine ungeheure Dynamisierung dieses Prozesses brachten. Seine Mahnung zum Nicht-Handeln wurde wie schon viel früher die gleichartige des Leo Tse nach Kräften mißachtet. Vielmehr wurden in der Folgezeit Heräsien und Heilslehren geradezu am Fließband produziert, das auch ein Hieronymus Bosch sie nicht mehr vollständig katalogisieren könnte. Ich erhebe also keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wenn ich im Gefolge der Französischen Revolution drei Heilslehren näher vorstellen will.
Es sind dies der Kommunismus, der Nationalsozialismus und der Liberalismus. Sie verstehen zwar nicht das Frühmittelalter als »glückliche« Zeit, aber sie verwenden das Triadenschema wie Novalis. Beim Kommunismus ist es die sogenannte Urgesellschaft mit bescheidener Produktivität, da Gewinn und Verbrauch noch Hand und Hand gingen und keine größeren Vorräte zu verwalten waren. Als sich dies ändert, erfinden die Gewitzteren die Religion und die Metaphysik und legitimieren es damit, sich selbst alles zuzuschanzen, was über das Lebensnotwendige hinaus entsteht. Die Stärke dieses Modells liegt darin, daß es ohne einen externen Feind auskommt. Gewissermaßen naturgesetzlich führt die Leistung des Menschen, ob nun Dreifelderwirtschaft oder Dampfmaschine, die meisten ins Elend und einige zu Reichtum und Glück. Für diese Plausibilität muß freilich fast alles ausgeblendet werden, was dem Leben eignet und es als menschlich erscheinen läßt. Aphrodite und Eros, die beim Europa-Mythos mitwirkten, gehören zum Überbau. Ähnlich eindimensional geht die Freudsche Heilslehre vor, nur daß sie die Welt nicht auf Fressen und Hunger gründet, sondern auf das Lustprinzip des Sexus. Daß nicht nur Marx und Freud Juden waren, sondern zahllose weitere Welterklärerer und Weltverbesserer, bringt den Nationalsozialismus auf den Plan. Seine glückliche Zeit ist die ethnische Homogenität der Germanen, wo im Grunde jeder mit jedem verwandt war und man sich also eine große Familie vorzustellen hat. Dann kamen die Semiten und mit üblen Tricks und Roßtäuscherei brachten sie die Menschen gegeneinander auf und zerstörten die Gemeinschaft. Ziel muß deshalb nicht nur die Beseitigung der Semiten sein, sondern auch aller semitischen Ideen, und was dies wohl alles sei, kann man wohl nur auf die Weisheit des Führers vertrauen. Die Ideen des Nationalsozialismus klingen nicht besonders originell und sie wollen dies auch gar nicht sein. Für den Nationalsozialisten ist die Intellektualität selbst schon semitisch. Er setzt die Aktion gegen das Nachdenken. Daß ihn Aktion um der Aktion willen in die Katastrophen geführt hat, mag deshalb kein Zufall sein, auch wenn die Umstände, die dies bewirkten, weitgehend außerhalb seiner Macht standen. Für den Liberalisten ist die glückliche Zeit der freie Markt. Er macht sich nicht die Mühe, dieses Paradies in eine bestimmte Vergangenheit zu projezieren, es genügt ihm festzustellen, daß dies unwiderruflich die Natur des Menschen sei. Sein Feind sind alle Kräfte, die sich nicht vom Marktgeschehen bestimmen lassen, also die Religion und ihre weltlichen Parodien. Das Ziel der Welt ist der Verbrauch. Entgegensteht ihm insbesondere der Umstand, daß die Welt endlich ist. Nachdem der Ausweg weiterer Welten im Universum an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, setzt der Liberale zunehmend auf das Virtuelle, das potentiell unendlich ist. Damit wird das Ziel der Geschichte der vollendete Schein, was im Umkehrschluß das Ende des Seins bedeutet.
Es ist Novalis gewiß nachzusehen, wenn er meinte, mit den Schrecken der Revolution sein die Spitze der Fahnenstange erreicht. Wir sind in diesem Punkte skeptisch geworden - wer weiß, was uns noch alles bevorsteht? Dies ändert aber nichts an der Richtigkeit seiner These: Erst wenn Europa zum Glauben zurückkehrt, wird es wieder mit sich selbst und anderen in Eintracht leben können.

III

Als Beispiel der gegenwärtigen Diskussion zur Identiät Europas möchte ich eine Auslassung von Rémi Brague, Philosph an der Universität München, diskutieren. Dieser behauptete nämlich, Europa habe seine Identität in konstitutiver Nachrangigkeit oder Zweitrangigkeit gegenüber den eigentlichen Ursprungskulturen, dem griechischen Denken und der jüdischen Religion, gefunden. Die ideenpolitische Spannung zwischen Athen und Jerusalem wurde aufgehoben ins Römische und Christliche, freilich um den Preis mangelnder Originalität. Europa ist die Kultur, die ihre Ursprünge nicht in sich selbst findet, Europa ist gleichsam zu sich selbst emigriert. In allen »Übertragungen« des Römischen Reichs erschien das Römische stets und von vornherein als Kopie, als Zitat, als die vielgestaltige Aneignung eines Fremden.
Europas Identität ist folglich, so argumentiert Brague, buchstäblich »exzentrisch«. Jeder Aufbruch in der Ideengeschichte Europas artikulierte sich in Rückgriffen: im Rückgriff auf die griechische Philosophie und Dichtung oder im Rückgriff auf die jüdische Religion, etwa in den Krönungszeremonien der mittelalterlichen Könige. In der enthusiastischen Rhetorik dieser Rückgriffe haben die Römer die Schätze der griechischen und der jüdischen Welt weitergeleitet und verteilt. In der Vermittlung eines Inhalts, der letztlich nicht sein eigener ist, liegt der wahre Gehalt Roms. Gerade eine exzentrische Identität führte zu erneuter Selbsterfindung. Die Geschichte Europas, eine Geschichte stets erneuerter Vermittlungen, Übersetzungen, Missionen und Sendungen, entfaltete sich konsequent als Geschichte der Medien: War denn nicht Europa selbst ein Medium schlechthin? Nicht zufällig wurden die wichtigsten technischen Medien in Europa erfunden: vom Buchdruck bis zur Schreibmaschine, von der Fotografie bis zum Film, von der Telegraphie bis zum Computer.
Dieser Deutung Europas als Medium muß ins zweierlei Hinsicht widersprochen werden. Zunächst wird ein Inhalt unterschlagen, der dem antiken Rom und dem europäischen Mittelalter fundamental war, dies ist der Reichsgedanke. Das antike Rom mag sich in mancher Weise als Vermittler bestätigt haben, wobei ich mal unentschieden lassen will, ob das Jerusalem wirklich mit Athen mithalten kann. Der römische Bürger und Soldat verstand sich nicht als ein Sprachrohr, das erfunden ward, die Weisheiten Palästinas an die Universität München weiterzuleiten. Fremd war ihm auf jeden Fall die Überschätzung der Propheten und der Sophisten. Das Eigenartige an Rom besteht gerade darin, daß das Wesentliche nicht erdacht, erhofft oder projeziert wird, sondern daß es verwirklicht ist und täglich verwirklicht wird, und das ist das Reich. Das römische Reich ist keine Idee, sondern real. Reich und Republik sind hier keine Gegensätze wie in Deutschland, sondern Synonome.
Das römische Reich ist ein geordnete diesseitige Welt. Es war von großer Toleranz in Fragen des Jenseitigen geprägt, gerade weil es sich unbedingt als irdisch verstand. In politischen Dingen verstanden die Römer keinen Spaß, nicht bei den Hellenen und schon gar nicht bei den Juden. Ihr Ordnungssinn hat manchen Spott hervorgerufen, wie etwa bei der Namensgebung der Kinder nach Alphabet und der Numierung von Dingen, die man eigentlich nicht als vergleichbar ansehen will. Auch das Wort »dezimieren« tönt schrecklich von ihrem allbeherrschenden Ordnungsbegriff. Die Ordnung war für den Römer das Reich. Mit der christlichen Wiederbelebung des Reiches verschoben sich die Gewichte. Wenn Gott die Ordnung setzt, dann ist das Reich der Weg zum Heil und deshalb das Heilige Reich. Insofern ist es durchaus ein Medium: zwischen Mensch und Gott. Dies hat aber ganz und gar nichts mit Reproduktionstechnik zu tun.
Zu anderen halte ich es für höchst verfehlt, gerade die Bereitschaft, Fremdes aufzunehmen, zu verarbeiten und weiterzugeben, als Zeichen mangelnder Originalität zu deuten. Dies ist eine Mangel-Ideologie. Der Mensch arbeitet, weil er sonst nichts zu essen hat. Dies ist eine der vielen Spielarten des Materialismus, wonach aus Geringem Höheres entsteht, aus Simplem Komplexes, aus Dumpfem Bewußtes. So vollzieht sich die Schöpfung nie. Das Kind, das so viele äußere Eindrücke verarbeitet, zeigt eine viel größere Geistesleistung als der fernsehverdorbene Erwachsene, der wie ein Uhrwerk seine Vorurteile reproduziert. Wenn die Römer oder der mittelalterliche Mensch Bescheidenheit übte und die Alten verehrte, dann weil er wußte, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat und sich der Mensch im Lauf der Geschichte immer weiter von Gott entfernt. Bis hinab zur Universität München.
Außerdem möchte ich Herfried Münklers vielbeachtetes Buch »Reich, Nation, Europa. Modelle politischer Ordnung« erwähnen. Hier werden drei Begriffe gegeneinandergesetzt, um letzlich dazutun, daß ein ans christliche Abendland oder ein an den Humanismus der Aufklärung gebundener Europabegriff keine Zukunft habe. Die Beschränktheit des Ansatzes wird schon durch das Titelbild deutlich, dargestellt wird die Proklamation des Bismarck-Reiches im Spiegelsaal von Versailles. Der Inhalt hält, was der Umschlag verspricht: die Reichsidee ist die Kriegsbegeisterung von 1914 und die Trauer der Konservativen von Weimar. Überhaupt ist Europa in diesem Buch nichts anderes als die Europäische Union, und die Nation ist auch nichts anderes als der Modus der Völker in diesem Konstrukt einen Unterschlupf zu finden. Um diesen billigen Tand zu verkaufen, werden alle möglichen politischen Haarspaltereien des letzten Jahrhunderts nachgezeichnet, wir erfahren, was die Rechtsintellektuellen und was die Linksintellektuellen meinten und allerlei Belanglosigkeiten mehr. Reich, Nation, Europa - all diese Begriffe erfahren bei Münkler erst im 20. Jahrhundert ihre Bestimmung, kommen frühere Zeiten einmal zu Wort, dann war es wohl an der Zeit für ein neckisches Dekor. Es zeigt sich wieder einmal, wie so oft, daß man kein Buch lesen soll, das von einem Ungläubigen verfaßt worden ist. Das ist alles nur ein Glasperlenspiel, seelenloses Konsens-Gerede, Eulenspiegelei und Augenzwinkern. Natürlich wendet sich der Autor an Leute, die dieselben Medien konsumieren wie er selbst. Und da ist man aufgeklärt, tolerant und nachdenklich. Wenns noch schöner wär, wärs nicht auszuhalten.
Europa kann niemals als Gegensatz zum Reich verstanden werden. Auch wenn Europa geographisch größer ist und neben dem Reich auch Hellas, Frankreich, Spanien, die britischen Inseln, Schweden und Rußland umfaßt, bleibt das Reich doch das Zentrum, und dies nicht nur geographisch, sondern vor allem religiös. Das Heilige Römische Reich hat sich immer als die Vormacht des Christentums verstanden und damit die römischen Ordnungsvorstellungen transzendiert. Und wenn wir im Glauben treu bleiben, so dürfen wir mit Luther sagen: »Das Reich muß uns doch bleiben.«