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Zunächst überkommt mich eine gewisse Beklommenheit. Was würde wohl Nietzsches unbestechlicher Blick zu meinen eigenen Werken sagen, kämen ihm diese vor Augen? Was würde er an erbärmlichen Motiven, billigen Effekten, Kaschierungen von Unvermögen enttarnen, auf welche Wunden den Finger liegen und sie unübersehbar machen? Es wäre vermessen zu behaupten, daß ich mich solch einer Prüfung gewachsen fühlte, etwa in dem Sinne, daß die zurückgeschnittenen Triebe dann nur um so stärker ausschlügen. Auf der anderen Seite habe ich bislang überhaupt noch keine ernstzunehmende Kritik meiner Dichtungen erlebt. Eine solche würde ich durchaus als spannende Erfahrung begrüßen. Optimistisch bin ich in dem Punkte, daß mich Nietzsche nicht wie Wagner bezichtigen würde, »zu Kreuze gekrochen« zu sein, oder aber, daß ich einem solchen Vorwurf selbstbewußt entgegnen könnte. Im »Fall Wagner« meint das Zu-Kreuze-Kriechen ein fortschreitendes Ununterscheidbarwerden zum Geist seiner Zeit, ja die hellsichtige Voraussage Nietzsches, daß Wagner einmal als geradezu typisch für sein Zeitalter angesehen werde. Das Christentum wird von Nietzsche ja geradezu als Metapher für die Dekadenz seiner Zeit benutzt, im allgemeinen unterschlägt er, wenn er von Christentum spricht, alles, was nicht krank, erschöpft, instinktarm, larmoyant und lebensuntüchtig ist. Daß er andere Seiten des christlichen Äons durchaus auch im Blick hatte, läßt sich an vielen Aphorismen aus dem Nachlaß zeigen. In Nietzsches Zeit beansprucht aber nicht nur das Spießertum des Bismarck-Reiches das Attribut des Christlichen für sich, sondern auch alle Opposition gegen dieses. Mit dieser möchte aber Nietzsche noch weniger verwechselt werden, Utopisten, Lebensreformer und Obskuranten aller couleur verfallen noch beißenderer Kritik. Da in diesem Zeitalter der Schwätzer und Vielschreiber alle historischen Spielarten des Christlichen, ja des Platonischen und Intellektuellen überhaupt, vereinnahmt sind, wählt Nietzsche Metaphern des Dionysos, des Dunklen von Ephesos, der blonden Bestie, des Verbrechers, um als außerhalb stehend wahrgenommen zu werden, außerhalb eines Reigens stehend, der in lieblicher Verlogenheit das »Mitleid« hochhält. Auch Schopenhauer, dessen Radikalität ihn zunächst zu Nietzsches Lehrer werden läßt, krönt seinen mitleidlosen Willen mit einer Mitleidsmoral. Es wundert also nicht, daß Nietzsche den kleinsten gemeinsamen Nenner, das Mitleid, besonders angreift. Das Christentum ist aber nicht auf eine Mitleidsmoral zu reduzieren, ebensowenig wie auf eine Todesverleugnung. Als Kind lernte ich nur einen gläubigen Menschen kennen, und dies war meine Großmutter, die zugleich unvergleichlich in Lebenstüchtigkeit, Mut und Prinzipientreue war. Sie lebte einen pflicht- und daseinsbejahenden Glauben vor und warnte vor Frömmelei. Durch sie allein erfuhr ich traditionale Dinge wie die Gebundenheit an die Scholle, die todüberdauernde Macht des Versprechens, die Poesie des Ländlichen mit Tieren und Gerätschaften, mit den Freuden und Plagen des Wiederkehrenden und des Immerfort-Neuen. Sie zeigte mir, was es bedeute, wenn auf Dingen und Taten Segen liege oder auch nicht. Gegen diese Kindheitserfahrung erschien mir später jede Art von Neuheidentum als intellektuelles Konstrukt. Außerdem wuchs ich in einem Staate auf, der dem guten Willen der Kirche, sich jeder Art von Weltlichkeit, jedem System und jeder Herrschaftsstruktur anzudienen, wenig Gegenliebe entgegenbrachte. Für Marxisten war es ein unumstößlicher Grundsatz, daß Religion an sich ein Übel sei und keineswegs eine Erscheinung, die genausogut den eigenen Zwecken wie den gegnerischen dienen könnte. Eine Kirche, die solcherart zur Opposition gezwungen war, mußte Elemente entwickeln und pflegen, die dem Zeitgeiste nicht entsprachen. Meine erste Begegnung mit der Kirche war also eine Begegnung mit dem Natürlichen inmitten einer Welt des Verlogenen und Erstarrten. Allerdings erfuhr ich auch hier bald, daß jenes Refugium keineswegs so unbedingt dastand, wie es mir anfänglich erschienen war, vielmehr wurde diese Subkultur von Ideengebern jenseits der Mauer trefflich genährt. So fiel mir schon bald auf, daß wohl das Hauptziel der Gemeinden in sogenannten sozialen Projekten bestand, in Werkstätten für Behinderte oder Lebensmittelspenden für Hungernde in Afrika. Als ich nach Süddeutschland ausreiste, besuchte ich das Domizil der evangelischen Studentengemeinde und kehrte ihm nach einer Besichtigung des Hausflures den Rücken. Die aufgehängte Propaganda war von einem Parteibüro der DKP kaum zu unterscheiden. Nachdem ich im Gemeindebrief unterrichtet wurde, daß man künftig beim Heiligen Abendmahl aus Rücksicht auf Alkoholkranke alkoholfreien Wein ausschenken werde, trat ich aus der lutherischen Landeskirche Bayerns aus. Natürlich paßt Nietzsches Gleichsetzung von Christentum und Dekadenz in meine Zeit noch viel besser als in die seine. Dazu brauche ich gar nicht solch krasse Auswüchse wie bestimmte Parteien oder die Stimmung auf einem Kirchentag, egal welcher Konfession, nehmen. Unter der Schundliteratur, unter der ich als Buchhändler in besonderer Weise leide, nimmt die christliche einen beachtlichen Rang ein. Die vatikanischen Bankgeschäfte fügen sich trefflich zum Kniefall des Papstes vor der Klagemauer. Nun mag der Philosoph Berge aufsuchen, wo die Luft bereits dünn wird, oder sich geschichtlich dort verorten, wo kaum etwas überliefert und festgeschrieben ist. Dies ermöglicht ihm in der Tat einen scharfen Blick auf die Zustände. Allerdings verschuldet ein solcher Standort auch die Mißverständnisse, die Nietzsches Gleichnisse zum Ausweg aus dem dekadenten Sumpf erlitten, welche er unter dem Stichwort des »Großen Mittags« erzählt. Wer das Evangelium als weltfremd und wenig praktikabel pönt, muß zugeben, daß dies auf »Also spach Zarathustra« in gesteigertem Maße zutrifft. Nietzsche verstand sich als ein Schicksal und meinte offenbar, seine Aufklärung über das Wesen der Moral könne eine Wende in Kult und Kultur, bei Rang und Instinkt, bei Dienst und Herrschaft bewirken. So besehen sind seine Werke Idealismus oder gar Metaphysik. Die Wende zur Erde, vom Großstädtisch-Zivilisierten zum Urtümlich-Bäurischen, vom Kaffeehaus-Literaten zu einem, der die Heimkehr der Störche und die Schnitter im Kornfeld besingt, kann immer nur im Einzelnen geschehen, und sie wird auch immer wieder im Einzelnen geschehen, weil die innere und äußere Natur des Menschen unergründlich und haushoch überlegen gegenüber der dünnen Patina zivilisatorischer Selbstverständlichkeiten bleiben wird. Hätte ich meine Großmutter nicht gehabt, hätte mich das Gerausch einer Quelle in Widerspruch zur Asphaltideologie gebracht. Aber das wäre freilich kein Christentum. Aber ist die Idee der Erlösung nicht auch die der Grenzüberschreitung und so ganz natürlich im Reich des Lebendigen? Muß man die Idee aus der Perspektive der Entartung eines Hysterikers mißverstehen? Historisch ist es zweifellos unzutreffend, die Dekadenz sei mit dem Christentum in die Welt gekommen. Die von Nietzsche gepriesenen Hochkulturen standen auf den Trümmern von Reichen, aus denen Erscheinungen überliefert sind, die höchst modern anmuten. Gleichzeitig ist schon im Gilgamensch-Epos der Wunsch zentral, die Sterblichkeit zu überwinden, und dieser Wunsch tritt bei einem Helden auf, der über jeden Dekadenz-Verdacht erhaben ist. Aber wir müssen gar nicht so weit zurückgehen. Ich wuchs in einer Gegend auf, die vor allem von christlichen Mönchen kultiviert wurde. Nicht von »Predigern des Todes«, sondern von Erschließern abgelegener Täler, von Pionieren der menschlichen Kultur. Ist es männlicher, sich dem gleißenden Licht mediterraner Klippen zu stellen oder den Mücken im nordischen Sumpf und den reißenden Überschwemmungen bei der Schneeschmelze? Was mich freilich nach Jahren des Umherirrens zum Christentum zurückfinden ließ, war nicht eine andere Gewichtung der geschichtlichen Überlieferung, sondern die Liebe. Keine Jungfrau, die für den interessanten Sünder betet, sondern eine Liebe, die zu einem Hausstand führte. Dieser ist als das eigentliche Seßhaftwerden die Voraussetzung für das Wiederfinden des kindlichen Traums traditionalen Lebens. Und dies kann nicht deutlich genug betont werden: der Ausweg aus der Dekadenz ist das sichtbare Vorleben, daß all die sogenannten Sachzwänge des modernen Irrsinns bedeutungslos werden, wenn einer ernst macht mit der Bereitschaft, unmodern zu leben. Es ist möglich. Das gesprochene Wort und das geschriebene Wort gewinnen eine neue Schlagkraft durch den tätlichen Beweis. Nietzsche hat modern gelebt, in Hotels, auf Wanderschaft, und den Süden, den er suchte, könnte man boshaft auch mit dem Aphorismus aus dem Zarathustra zusammenbringen, nach dem der letzte Mensch, »die Gegenden verlassen [hat], wo es hart war zu leben«. Auch im Heidentum bzw. im Neuheidentum sehe ich ein Ausweichen vor der harten Realität christlicher Mißverständnisse und Schwärmereien. Aber wahr ist dies: das Evangelium ist keine Musik für die Seichten und Lauen, es betont, daß die breite Straße ins Verderben führe. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Die Härte dieses Satzes kann auch Nietzsche nicht übertreffen. Und also ist das wahre Christentum kein bequemer Kniff, »zu Kreuze zu kriechen«. Es ist gerade das Gegenteil davon.
Zu Zeiten, als ich mich selbst als Wagnerianer verstand, hat es mich gelegentlich gewundert, daß Richard Wagner den Untergang des Nationalsozialismus so glänzend überstanden hat. Es wurden ein paar Führungskräfte in Bayreuth ausgetauscht, danach ging es mit Enthusiasmus weiter. Auch in der Sowjetzone wurde Wagner gleich wieder aufgeführt und blieb in aller Zukunft von Angriffen verschont. Andere deutsche Künstler standen, sofern sie im Nationalsozialismus geschätzt wuden, zumindest lange Zeit unter Ideologieverdacht. Schiller kam zugute, daß Hitler weitere Aufführungen des »Wilhelm Tell« aussetzte, nachdem der Beifall beim Lob des Tyrannenmordes demonstrationsartige Formen angenommen hatte. Hölderlin und die Romantiker wurden in der DDR viele Jahre nicht gedruckt, Georg Lukács führte Kleist als Wegbereiter Hitlers vor und Nietzsche blieb ein solcher bis zum Ende des Staates. Ernst Jünger und Martin Heidegger wurden verboten. Nun wäre es freilich untertrieben, zu sagen, Wagner sei im Dritten Reich geschätzt gewesen. Während andere Denkmäler und Prachtausgaben bekamen, kniete Hitler vor Wagner geradezu. In Bayreuth hatte Hitler jede Verehrung seiner eigenen Person untersagt, da hier ausschließlich dem Meister gehuldigt werden sollte. Als Hitler Mussolini besuchte, vermerkte das Protokoll, daß der »Lohengrin« gegeben wurde. Die Kunst Richard Wagners war mit diesem Staate verbunden wie keine andere. Wenn man nach 1945 über die Verbindung von Kunst und Ideologie referieren wollte, hätte man zuallererst Richard Wagner im Auge haben müssen. Aber dies geschah nicht und geschieht bis heute nicht. Gelegentlich veröffentlicht jemand ein Buch über Wagners Antisemitismus, den der Komponist nicht nur mit zahlreichen Opernfiguren und Anspielungen ausdrückte, sondern auch mit der programmatischen Schrift »Das Judentum in der Musik«, aber diese Einzelstimmen finden wenig Gehör und kratzen am Lack des Meistes kaum. Dies sei nun mal der Zeitgeist des 19. Jahrhunderts gewesen. Eine ähnliche Milde erfährt sonst niemand. Die Lösung dieses Rätsels ist verblüffend einfach: Wagner wird nicht demontiert, weil er für die Moderne unverzichtbar ist wie kein anderer. Ich gehe noch weiter und sage, er ist das Genie der Moderne. Zumindest unter Nichtjuden. Kein anderer Geist war so fundamental groß und so fundamental modern. Nietzsche zählt im »Fall Wagner« viele Punkte auf, die Wagner als modern ausweisen. Ich möchte mich hier auf einen Punkt kaprizieren. Dies ist der Umstand, daß Wagner nicht etwa Dinge macht, für die er begabt ist oder die ihm am Herzen liegen, sondern von denen der größte Effekt auf die Masse ausgeht: dieses ist die Wiedererweckung des Mythischen. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb ein Dichter anerkennend über Wagner, sein größtes Verdienst sei die Theaterwerdung des Mythos. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zeigt sich ein Zugleich von Rationalismus und einer Neigung zur Magie. Bei den Automaten jener Zeit scheint beides verschränkt. Selbst materialistische Eiferer finden Muße zu Zahlenspielereien, Wissenschaft und Scharlatanerie geben sich oft die Hand, und die Freimaurer finden Mystizismen genauso faszinierend wie eine kulturübergreifende Toleranz. Im Mesmerismus findet das Zusammenspiel von Naturkunde und Magie einen gewissen Höhepunkt. Was hingegen dieser Zeit fremd bleibt, ist das Mythische. Dieses gerät im folgenden Jahrhundert in den Blick und damit eine Entgrenzung, ein Schritt ins Totale. An dieser Stelle ein paar Gedanken zum Wesen des Mythischen. Der Begriff ist zwar vertraut, aber merkwürdig unscharf. Wer einige Mythen aufzählen kann, muß nicht notwendig eine Vorstellung von Wesen und Eigenart dieser Welt haben. Im Unterschied zu den Praktiken der Magie und den Übungen der Mystik ist das Mythische immer an einen narrativen Hintergrund gebunden. Wenn es etwa in einer Formel oder einem Hymnus auftritt, so wird dabei die Kenntnis einer Geschichte vorausgesetzt. Ein erstes Kennzeichen des Mythischen ist damit also die weite Verbreitung eines Stoffes, der durchaus variiert wird, aber einen stabilen Kern aufweist. Ein weiteres ist die allgemeine Überzeugung, daß diese Handlung und die agierenden Personen von einer überzeitlichen Bedeutung seien. Mythen im schlechten Sinne des Wortes schafft jemand, der Geschichten erfindet, die zum Entsetzen eines Dritten von vielen geglaubt werden. Solche sind vom Mythischen, von dem hier die Rede ist, strikt zu trennen. Denn das Mythische kann auch als Fähigkeit verstanden werden zu mythisieren, also einen vergessenen Stoff mythisch anzureichern oder gar einen frei erfundenen Stoff so zu gestalten, daß er mythische Qualitäten aufweist. Wenn jemand alte Mythen erzählt, kann sich das mythische Element abschwächen oder verstärken, ja, es kann sogar in einem bis dahin profanen Stoff aufscheinen. Homer galt den Alten als der blinde Sänger, weil seine Dichtungen das Mythische leuchten ließen wie keine Fassung sonst. Homer wurde mit »Ilias« und »Odyssee« zum Dichter eines ganzen Zeitalters und darüber hinaus. Eine solche Karriere hatte Wagner wohl im Blick, als er sich von den klassischen Opernstoffen abwandte und frühmittelalterliche Sagen und Geschichten auf seine Weise bearbeitete. Dabei hat Wagner die Stoffe zunächst der höfischen Tradition entkleidet. Positiv verstanden, würde dies bedeuten, er habe den allgemeinmenschlichen Kern herausgearbeitet. Dies würde ich ihm aber nur im Fall von »Tristan und Isolde« zugestehen. In der Tat ist der Stoff einer widergesetzlichen Liebe eines Paares, das man, etwas respektlos formuliert, als hochgradig überspannt bezeichnen kann, ein Thema, bei dem Wagner hohe Kompetenz zugebilligt werden muß. Ein rasendes Weib wie Isolde, als sie mit den Worten »und wärs meines Lebens Licht« die Fackel auslöscht, jene Lichtträgerin und damit Botin des liebesfeindlichen Tages, steht Penthesilea nicht nach. Aber im übrigen zeigt sich, daß sich Wagner nicht nur im Dramatischen, sondern gerade im Mythischen mit einem Kleist nicht messen kann. Kleist, der sein Leben niemals ordnen konnte, von einem Extrem ins andere schwankte und schließlich beschloß, seinen Untergang zu zelebrieren, war von Kräften getrieben und zerrissen, die bei Wagner aus der Literatur kommen. Kleist hat das Mythische, deshalb bedarf er des mythischen Stoffes nicht, auch in einer Komödie wie dem »Zerbrochnen Krug« leuchtet das Mythische auf. Wagner hingegen ist ein Schauspieler, ohne einen Stoff, der vom Publikum bereits vorher als »mythisch« apostrophiert wird, kann er sich nicht auf die Bühne trauen. Was aber Wagner im mythischen Dekor Theater werden läßt, was er mit kultischen Weihen ins kollektive Unterbewußte bannt, daß weithin wagnerische Fassungen der Stoffe bekannter werden als jene älterer Dichter, das ist nicht etwa jenes Allgemeinmenschliche, das dem Mythos angemessen ist und naturgemäß innewohnt, sondern es sind die Sehnsüchte des modernen Menschen, eines Menschen, für den die »Kultur« die Dienstleistung bedeutet, seiner Zerknirschung und seinem Größenwahn höhere Weihe zu geben. Bekanntlich sah sich Hitler als Lohengrin, und er steht mit dieser Selbststilisierung, weiß Gott, nicht allein. Der Schwanenritter, ein Mann, in dessen Natur und gewöhnlicher Umgebung nur das Hehre und fraglos Edelmütige vorkommen, kommt durch den Hilferuf und das zunächst behauptete grenzenlose Vertrauen einer Jungfrau in die Lage, ihr seine Liebe zu gestehen. Eine solche Torheit würde in jedem anderen Zusammenhange schallendes Gelächter beim Publikum auslösen. Aber hier bekommt seine Narrheit, dem Schwur der Göre zu glauben, tragische Dimension. Keine Rede davon, daß ein Schwur wenig bedeuten kann, wenn er die Wahl zwischem dem Henker und dem Thron bedeutet. Dafür schwören nicht nur Frauen, sondern auch Männer so ziemlich alles, und sei es so eine Narrheit wie das Unterlassen einer Frage. Was geschieht nun? Dieses grenzenlose, ja unmenschliche Vertrauen, ist auf Dauer nicht durchzuhalten, schon gar nicht in der Intimität einer Ehe. Hinzu kommen Gerede und Einflüsterungen, die freilich bei Wagner gegenüber dem, was bei einer Herzogin üblich sein dürfte, recht verhalten ausfallen. Jedenfalls wird der Schwur nicht gehalten, und der Held, vom Menschengeschlechte grenzenlos enttäuscht, muß von dannen ziehen. Wer aber meint, aus dieser abgeschmackten Story lasse sich kein großes Theater machen, der kennt Richard Wagner nicht. Das Leitmotiv »Nie sollst du mich befragen« schwebt unheilsschwanger durch den Saal und läßt die Herzen der Hörer erbeben. Ihnen ist die Situation vertraut, man wird von unbegreiflichen Mächten beherrscht und ein winziger Fehltritt führt zur Katastrophe. Oder noch simpler: Keiner versteht mich. Die Handlung anderer Musikdramen steht an Stupidität dem »Lohengrin« nur wenig nach. Ich möchte hier nur noch auf den »Ring des Nibelungen« eingehen, eines Programms für vier Abende, mit dem Wagner seine gewöhnliche Großartigkeit im Inszenieren noch übertrumpft. Immerhin hat mir dieser »Mythos« viele Jahre den Blick auf das Nibelungenlied verstellt, und ich danke es Hebbel, daß dieser Stoff endlich doch für mich fruchtbar werden konnte. Wagner hat diesen Stoff rückwärts gedichtet, die Familientragödie zu Burgund bekommt immer mehr Vorgeschichte, bis sich schließlich die Gewichte verschieben und Siegfried und Hagen als Stellvertreter für göttliche Auseinandersetzungen erscheinen. Dabei hat aber Wotan, der »traurige Gott«, in dem sich Wagner noch mehr als in Tannhäuser oder Lohengrin selbst ein Denkmal zu zeichnen trachtete, keinen ebenbürtigen Gegenspieler, sondern die Gestalten über und unter der Erde lassen sich sehr leicht als Launen dieses gefrusteten Ehemannes ausmachen. Wotan ist genauso Alberich und Fafner, er bekennt vor seiner Walküre, daß er in jungen Jahren unbesonnen war (wie wohl Wagner in Dresden), daß er Verträge geschlossen habe, die ihn nun unfähig machten, die Welt zu führen. Man denkt unwillkürlich an Schuldverschreibungen, also paßt diese Oper trefflich zur aktuellen Schuldenkrise in Griechenland. Wie später auch im »Parsifal« erfolgt die Erlösung der Gesellschaft durch einen Idioten. Nur, daß es sich hier nicht um die Gralsbruderschaft und damit einen hortus conclusus handelt, sondern um das Volk, die politische Welt. Man denkt an Marx, der die Erlösung durch den Proleten erträumte, an Freuds Überzeugung im Walten des Neurotikers die Kräfte erkennen zu können, die Kulturen schaffen und erhalten. Also ein talmudisches Revolutionsdrama? Nein, hier kommt Schopenhauer ins Spiel, und so wird der Stoff für den Konservativen so akzeptabel wie für den Landstörzer. Der Held fällt, der Mörder wird von Weibern im Rhein ersäuft und das Schlußbild nimmt das brennende Berlin von 1945 vorweg. Großes Theater, und für jeden was dabei. Warum aber ist der oberste Gott so traurig? So traurig, daß er seinen eigenen Sturz ersehnt? Man denkt an die deutschen Fürsten, die 1918, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so rasch abdankten, daß man den Eindruck hatte, sie hätten lange auf diese Gelegenheit gewartet. Wotan muß erkennen, daß seine Verträge reale Folgen gezeitigt haben, die man nun nicht mehr korrigieren kann, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Gerade an den Stellen der Handlung, wo er durch eine begrenzte Gewalt die weitere Zuspitzung der Lage verhindern könnte, hält er sich vornehm zurück und nimmt damit wesentlich ärgere Gewalttaten für die Zukunft billigend in Kauf. Im Grunde tut er in der Handlung über viele Generationen und Geschlechter nichts anderes, als Ausschau zu halten, wie er sich der Verantwortung für das kommende Unheil entledigen könnte und zeigt dabei eine talmudische Gewitztheit. Nachdem seine Frau die Intrige mit dem angeblich völlig frei handelnden Sigmund enttarnt hat, muß er bei Siegfried noch weiter beim Täuschungsmanöver ausholen, damit die Gattin nichts merkt. Der Oberste der Asen als Narr und Feigling. Eine ärgere Parodie ist eigentlich nicht denkbar. Aber ein Wagnerianer kommt niemals auf die Idee, ihm werde eine Parodie vorgesetzt. Er hält die Albernheiten für echte Tragik. Das Mythische bei Wagner ist, bei Licht besehen, eine Fülle von Absurditäten und Geschmacklosigkeiten. Also nicht Anmut und Schönheit auf der Bühne, sondern Feigheit, Faulheit, Gemeinheit und Dummheit. Die Götter sind Spießer mit Spießerproblemen. Wagner ist nicht weniger modern als Rainer Werner Fassbinder oder Joseph Beuys. Aber er hat den Tarnhelm des Mime im Gepäck. Damit erscheinen das Grobschlächtige subtil, das Plumpe tänzerisch, das Selbstgerechte edel.
Wer das Mythische als Mythisches sucht, gerät sehr schnell an das Hermetische und Esoterische. Wie der Minotauros im Labyrinth nährt er sich von Opfergaben, die im Dämmer konturarm bleiben. Er schwankt zwischen Form- und Materialfetischismus. Überall merkt man ihm das Fehlen von Licht und Bewegungsfreiheit an. Er vergißt, daß der Hall von der Hohlheit seiner Behausung herrührt, und stilisiert die Einsamkeit zur Souveränität. Er sucht die Bedeutung um der Bedeutung willen, er wendet sich vom Konkreten ab und damit von der Quelle aller Dichtung. Denn das Metier des Dichters ist das unmittelbar Erfahrene, nicht das Angelesene. Man verwechsle nicht Metier und Dekor. Seltsamerweise gelang mir persönlich die Überwindung der Esoterik in meiner Dichtung gerade durch ein ausgesprochen esoterisches Thema, die zweiundzwanzig Großen Arcana des Tarot. Beim Bedichten dieser Karten ging mir auf, daß es sich um eine Reise handelt, um eine Lebensreise, eine Folge von Prüfungen. Die Initiationsrituale der Artuslegenden zeichneten sich als mein Thema ab, und mir wurde bewußt, daß schon in den glücklichen Würfen des Jahres 1981 die Initiation mein Thema gewesen war, in der »Inkarnation« und im »Ganymedes«. Die Prüfung des Helden ist immer eine Aufgabe. Damit wurde die Suche nach meinem Thema zugleich die Suche nach der Aufgabe des Dichters in der Krise der Moderne. In der Moderne ist es geradezu eine literarische Konstante, die Moderne überwinden zu wollen. Die Moderne ist dabei ein Proteus, der mangels tatsächlicher Gestalt jede Gestalt annehmen kann. Auch hier steht Wagner am Anfang. In seinem Theater sollte sich das Volk aller Stände läutern. Dies klingt nach dem pädagogischen Anspruch der Klassik. Nur, daß die Klassik ganz andere Prämissen setzte. Da kam zunächst die Genauigkeit der Sprache. Nicht wabernd, nicht Ursuppe und Chaos am Tag vor der Schöpfung, nicht ausufernd und interpretationsgefällig, nicht zudröhnend und überwältigend, sondern genau, konkret, faßlich und gestalthaft. Dann die Logik der Handlung, die Notwendigkeit des Knotens und seiner Lösung, eine Notwendigkeit, die als einzig mögliche dasteht und doch im Gewande der Freiheit daherkommt. Die Leichtheit, mit der schwere Dinge zu schleppen sind. Es verwundert nicht, daß alle Filmmusik, ob von der Ufa oder von Hollywood, immer in ganz besonderer Weise Richard Wagner verpflichtet ist. Sie zielt auf unser Gemüt, wie Wagner es tat, nicht auf den kritischen Verstand. Es handelt sich um eine besonders nachhaltige Selbsttäuschung der Moderne-Kritiker, wenn sie meinen, der Moderne mit dem Absehen vom kritischen Verstande beikommen zu wollen. Der Rationalismus braucht den Irrationalismus, beide sind Seiten einer Medaille. Der Moderne entrinnt man nur durch das rechte Verhältnis von Wachheit und Vertrauen. Dies ist es, was Nietzsche den gesunden Instinkt nennt. Ähnlich ist es mit der Überlieferung und dem Gegenwärtigen. Wird eine Seite unmäßig bevorzugt, so wandert die andere in die Brille, durch welche die Sache angeschaut wird. Dort ist es sicher wie das Meerhäschen vor der Königstochter, zugleich aber deren Herr und Bezwinger. Jeder Mensch, er verstehe sich links oder rechts, hat teil an der Welt des Vaters wie an der des Bruders. Wer die Tradition und das Erbe verleugnet, wird zum Tyrannen, wer seiner Zeitgebundenheit zu entfliehen sucht, wird zum Hofnarren eben dieser Zeit. Aus diesem Grunde ist Antimodernität oft ein sicheres Indiz von Modernität. Die Pose des Weisen gebiert den Gaukler und Schauspieler. Die Kirche nennt den Hochmut als erste unter den sieben Todsünden und ordnet ihr Luzifer als Dämon zu. In der Tat lassen sich alle anderen Todsünden, aber auch die läßlichen Sünden auf diese erste Todsünde zurückführen. Denn ein anderes Wort für Hochmut ist Undankbarkeit. Diese ist die Ursache für Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust. Stand und Profession des Künstlers sind in besonderer Weise anfällig für den Hochmut. Die Vernichtung aller Zunftfesseln eines Handwerks wirft ihn tyrannisch auf sich selbst und eine selbstgewählte Tradition zurück. Oft läßt ein elitäres Bewußtsein die Einsamkeit leichter ertragen. Und wer vom Publikum gefeiert wird, läuft Gefahr, die eigenen Lügen zu glauben. Eine besonders aparte Spielart des Hochmuts besteht übrigens darin, die sieben Todsünden neu zu definieren, wie es Mahatma Gandhi für die moderne Welt tat. Hier wollte jemand besonders klug sein und offenbarte gerade damit seine Durchschnittlichkeit. So nannte er: Reichtum ohne Arbeit, Genuß ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Geschäft ohne Moral, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Religion ohne Opferbereitschaft, Politik ohne Prinzipien. Das Stilprinzip »ohne«, verwandt dem »aber«, als Markenzeichen des Aberglaubens, komplizierte Setzungen seien wahrer und gerechter als einfache. Antonios Mahnung in Goethes »Torquato Tasso« »Vergleiche dich! Erkenne, wer du bist!« wird gemeinhin als Aufforderungen verstanden, den eigenen Rang nicht zu unterschätzen. Aber auch die gegenteilige Aussage steckt in dem Worte. Der Vergleich ist sehr wohl auch ein Mittel, die eigene Überschätzung zu vermeiden. Richard Wagner meinte, in Deutschland sei »nur der Winkel produktiv« gewesen. Er selbst kam zwar aus Leipzig, einer Stadt, die bis 1945 von Bedeutung in Deutschland war. Aber es mag schon so sei, daß die meisten Genies aus Dörfern und Kleinstädten kamen. Dort sind die Möglichkeiten des Vergleichs begrenzt. Wer in seiner Schulklasse der Primus ist und im Dorf der hellste Kopf, neigt leicht dazu, die Welt da draußen in seiner Betrachtung außen vor zu lassen. Wer in einem geistig armen Zeitalter lebt, versteht die Welt als ein pommersches Kaff. Dies ist aber eine Selbsttäuschung und böser Hochmut dazu. Wenn Nietzsche nur Heraklit als Vorläufer gelten läßt, so hat der luzide Geist einen Bock geschossen. Keinen Ebenbürtigen und keinen Überlegenen zu kennen ist ein Zeichen von Blindheit. Aber die Blindheit ist ja das klassische Zeichen des Sängers. Damit kehre ich zum Ausgangspunkt zurück, zu Homer und dem Wunsch der Künstler, ihm zu gleichen. Die tiefere Einsicht wäre es, einzuräumen, daß ein solcher Wunsch schon von daher unstatthaft ist, weil eine solche Gnade zugleich auch ein Fluch ist. Richard Wagner ist nicht nur der größte, sondern auch der erste aller modernen Künstler. Aber, was will das besagen? Vielleicht nur, daß die Moderne ein kontinuierlicher Abstieg ist, der nur im Negativen Rekorde zu reihen vermag? Wer weiß? |