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BESUCH IN FÜRSTENWALDE
Hans-Dietrich Sander hat mir im vorigen Jahr die Ehre erwiesen, sich trotz seines hohen Alters einer strapaziösen Reise von 350 Kilometern auszusetzen, um den Dichter kennenzulernen, der sich in der »Deutschen Passion« und dem »Jahr des Heils« bezeugt hatte. Die Begegnung war heiter und kurzweilig. Gerade gelegentliche konträre politische Einschätzungen -- ich erinnere mich deutlich an unsere Kontroverse darüber, welche Optionen Dönitz 1945 gehabt hatte -- waren für mich Bereicherungen, wie man sie nur selten erfährt. Wir schieden in der Gewißheit, daß Hans-Dietrich Sander in Neustadt an der Orla künftig eine gute verlegerische Heimat habe.
Hans-Dietrich ist kein Dichter, sondern ein Denker. Sein Feld sind nicht Melos und Bild, sondern Wille und Machbarkeit. Aber durchaus im Mittelpunkt seines Denkens steht die Literatur. Nicht nur, weil er ein Buch über die Geschichte der schönen Literatur in der DDR verfaßt hat, das seinerzeit Anstoß erregte, weil es vom Fortbestehen einer deutschen Nationalliteratur ausging. Seine Dissertation und erste Buchveröffentlichung befaßte sich mit der Kunsttheorie im marxistischen Denken und damit überhaupt mit der Machtrelevanz der Kunst. Daß die Literatur von allen Künsten die größten Berührungsflächen mit Machtfragen hat, braucht sicher nicht besonders begründet werden, und so stehen auch Literaturtheoretiker mit ihren verschiedenen Phasen im Zentrum von Sanders Buch. Im »Nationalen Imperativ« scheint die Literatur in den Hintergrund zu treten, bis man durch ein langes Zitat des Dichters Paul Valéry eines besseren belehrt wird. Ausgerechnet diesen Dichter läßt Sander, mit französischer Schärfe im besten Sinne des Wortes, Ursachen und Konsequenzen des deutschen Aufstiegs um 1900 erklären. Auf diesen Maßstab kommt er später mehrfach zurück. Es ist also nicht so, daß Hans-Dietrich Sander in der Art Stefan Zweigs das »Who is who« der Literatur aufführt, vielmehr erweist er dem Dichterischen dadurch Aufmerksamkeit, indem er ganz gezielt »orphische« Wortmeldungen zur Erklärung allgemeiner Zusammenhänge heranzieht. In der »Auflösung aller Dinge« stehen mit Benjamin und Weininger zwei Denker und Gestalten im Fokus, die beide von ausgesprochener Neigung zur Literatur und von Kenntnis derselben geprägt sind. Nicht zuletzt will ich an dieser Stelle erwähnen, daß auch in den »Staatsbriefen« die »schöne Literatur« eine Stellung einnimmt, die man sonst in politischen Periodika vermißt.
Wenn man nun argwöhnt, dies sei ein aufs Politische verengter Blick auf die Literatur, wenn nicht gar der fortgesetzte Versuch, die Kunst zur Waffe zu machen, so sei erwidert, daß es eine Kunst, ja einen Geist überhaupt nicht gibt, der von jeglicher politischer Relevanz frei ist. Alles Zeigen, alles Gestalten korrespondiert mit einem Denken und also auch mit einem Handeln. Ein Handeln ist auch dann politisch bedeutsam, wenn dem Handelnden dafür jegliches Bewußtsein fehlt. Das haben Mächtige immer klar erkannt, und die Verkennung dieser Zusammenhänge erzeugt Nebel. Solcher ist freilich im Interesse von Systemen, die Verschleierungen zur Grundlage haben.
Politisches Bewußtsein bei Dichtern wird von konservativer Seite als ein Irrweg und der Beginn fortschreitender Impotenz gepönt. Man nennt dann gern Johannes R. Becher, dessen Spätwerk zu poetischen Verlautbarungen der Parteilinie verkam. Ich halte das Beispiel für nicht zwingend. Zum einen halte ich Bechers Anfänge für nicht so bedeutend, daß hier ein klarer Verfall diagnostiziert werden könne. Zum anderen ist ja das bequeme Einfügen in die Linie der Partei, das Andere-für-sich-denken-Lassen geradezu das Gegenteil von politischer Bewußtheit. Richtig ist, daß ein Dichter seine Quellen verschüttet, wenn er Propaganda produziert, also Wortmaterial, das auf einen ganz konkreten Effekt, eine ganz konkrete Überzeugungsarbeit zielt. Denn des Dichters Wesen zielt auf die Tiefenschichten der Seele, nicht auf die Schreibhand, die auf dem Stimmzettel links oder rechts ihr Kreuzchen macht. Man könnte diese Haltung ganz unpolitisch als ein Schauen bis zur nächsten Ecke bezeichnen. Dies ist in der Tat keine Poesie. Aber vom Volk, seinen Mythen und Sehnsüchten, von der Reichsidee, vom Glauben an den lebendigen Gott getragen zu sein, also von durchaus politischen Kategorien, dies ist dem Dichter nicht nur nicht schädlich, sondern geradezu Voraussetzung, aus einem Minimalismus herauszutreten. Außerdem halte ich es für nützlich, wenn ein Dichter lernt, sich wirtschaftlich zu behaupten, denn die wirtschaftliche Behauptung ist eine ganz wesentliche Seite der menschlichen Natur, die nur Toren verachten. Im Aberglauben, die Wirtschaft sei das Schicksal schlechthin, tut es not, das Gleichgewicht leiblich zu zeigen.
Wenn ich heute an Hans-Dietrich Sander denke, stelle ich mir ihn in seinem Haus in Fürstenwalde an der Spree vor. Es ist etwas völlig anderes, jemanden in seinem gewöhnlichen Lebensumfeld zu erleben als bei sich oder an neutralen Ortschaften. Des Thema des Ortes und der modernen Entortung ist fundamental in Sanders Werk. Dieser Umstand allein würde ihn mir zu einem Geistesverwandten machen. Denn ein anderes Wort für Entortung ist die Mobilisierung. Wer meine Gedichte und meine Lebensweise kennt, weiß, welche Rolle für mich Automobil und Flugzeug spielen. Wenn ich die Eisenbahn als technisches Verkehrsmittel am ehesten akzeptiere, dann spielt ihre Ortsgebundenheit an Bahnhöfe und Schienenstränge dabei eine herausragende Rolle. Zur Einschränkung »am ehesten« möchte ich anmerken, daß gerade die Bahnhöfe derzeit abgerissen oder zu Einkaufszentren verunstaltet werden, in jedem Falle aber alles ausgemerzt wird, was diesen Orten einst Würde vermachte. Die Moderne begnügt sich aber nicht damit, daß die Leute zum Einkaufen fahren und zu Urlaubsstränden fliegen, sie entortet auch die Städte und Landschaften selber. Nicht nur, daß die Propaganda der Konzerne die frühere der Partei um ein hundertfaches übertrifft, es werden überall gewachsene Stukturen durch solche ersetzt, wie sie sich angeblich anderswo bewährt haben oder gerade Mode sind. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Wandel der Struktur. Nicht nur die steigende Frequenz von Abriß und Neubau, auch die Anlage von Parknischen, »Kunstwerken« und sonstigen Gestaltungselementen legt es darauf an, die Entstehung von Heimatgefühl zu verhindern.
Allerdings wird man den genius loci nur dann völlig vermissen, wenn man den durch Wegweiser gezeichneten Haupttrassen folgt, außerhalb derer für die meisten Menschen gar keine Welt mehr existiert. Die Fußwege von einem Ort zum andern sind grasüberwuchert, weil Wanderer einen Kreis (oder gar einen Naturlehrpfad) vom Parkplatz zum Parkplatz benutzen. Eine Ökonomie, rasch von A nach B zu kommen, ist ausgeschilderten Wanderwegen fremd, vielmehr soll der Spaziergang gedehnt werden und keine der Sehenswürdigkeiten auslassen.
Es bestätigt Sanders Sinn für die Ortsgebundenheit aller Ideen und aller Taten, daß er sich seinen künftigen Verleger in dessen Arbeitsumgebung angeschaut hat, zwischen den Regalen und Paletten, dem Verpackungsmaterial und dem kleinen Karren, mit dem ich täglich meine Pakete zur Post ziehe. Drumherum eine riesige Baustelle. In der Wohnung war gerade das Gästezimmer fertig renoviert, sonst hätte ich den Besucher gar nicht empfangen können. Die Wasserleitung sollte erst einige Monate später gelegt werden. Man mußte quer über das ganze Grundstück und dann in der Firma noch durch mehrere Hallen, um zu einer funktionierenden Toilette zu gelangen. Dies war bei einem nächtlichen Bedürfnis gewiß lästig. Hans-Dietrich Sander hat diese Zumutungen ohne Murren ertragen, bei denen heute schon Jugendliche von einem Skandal sprechen würden.
Aber ich möchte nicht von den Problemen meiner Heimkehr nach Thüringen sprechen, sondern von meinem Gegenbesuch in Fürstenwalde. Die Gelegenheit ergab sich, als mich Hans-Dietrich Sander bat, die Restbestände seiner »Staatsbriefe« in Kommission zu nehmen. Wolfgang Schühly reiste per Bahn aus Graz an und steuerte dann seinen bei mir geparkten Post-Volkswagenbus aus den frühen achtziger Jahren ins Brandenburgische. Wir kamen erst bei Dunkelheit an, und da sich noch weitere Gäste zu einer Runde eingefunden hatten, wurde das Geschäftliche auf den nächsten Morgen vertagt.
In dieser Runde erzählte Sanders Frau Elke, wie sie beide nach ihrem Umzug aus der bayerischen Landeshauptstadt eine neue Heimat fanden. Horst Mahler hatte Hans-Dietrich Sander ohne dessen Beitrittserklärung und im Wissen, daß eine solche auch nicht erfolgen würde, als Ehrenmitglied auf die Liste seines »Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten« gesetzt. Da solche Listen die Angewohnheit haben, auf kürzestem Wege in die Büros der Sicherheitsbehörden zu gelangen, kam es morgens um sechs Uhr zu einer zeitgleichen Hausdurchsuchung bei allen Genannten. Bei den Sanders fuhren, nachdem einen Tag zuvor ein Hubschrauber über dem Grundstück gekreist und alle Ein- und Ausgange photographiert hatte, Schwerbewaffnete in Mannschaftswägen vor. Dieses Schauspiel blieb gewiß niemandem in der Straße verborgen. Frau Sander berichtete nun, daß sie, ursprünglich als zugereist völlig fremd im Ort, seither von jedermann auf der Straße gegrüßt werde.
Als ich die Geschichte einem Schriftstellerkollegen erzählte, erntete ich ein ungläubiges Staunen und eine Rückfrage, ob er die Sache vielleicht genau falsch herum verstanden habe. Aber seine ebenfalls zuhörende Frau fand die Sache völlig einleuchtend. Dies erscheint mir wieder einmal ein Beispiel dafür, daß Frauen eine unverstelltere Anschauung vom Wesen des Volkes haben. Ihnen ist völlig transparent, daß Leute, die sich gewöhnlich wenig für die Politik interessieren, empört sind, wenn ein altes Ehepaar in solcher Weise von der Polizei belästigt wird. Und auch, daß die einfachen Leute keine Furcht haben, auf unschuldige Weise ihre Solidarität zu zeigen.
Zu den Lastern, welche die Rechte von der Linken übernommen hat, gehört die Volksverachtung, und Deutschland ist auch wieder einmal dabei, Maßstäbe zu setzen. Es ist vielleicht überflüssig zu betonen, daß Sander von diesem Laster vollkommen frei ist, wie er überhaupt keiner gängigen Vorstellung entspricht, die man gemeinhin von einem »Dissidenten« hegt. Er spricht ruhig und gelassen und dabei höchst präzise. Sein Humor ist entwaffnend, an seiner Ausdauer bei nächtlichen Diskussionen könnte sich mancher wesentlich jüngere eine Scheibe abschneiden. Er hat einen guten Geschmack und ist kein Geschmäckler. Er macht einen sehr vitalen Eindruck. Nur das schwindende Hörvermögen macht ihm zu schaffen. Im Zwiegespräch ist dies kein Problem, weil man sich dann leicht auf den Partner einstellt. Aber in einer größeren Runde wird oft über ihn hinweggesprochen, was ich zu meiner Scham immer wieder feststellen mußte.
Zu der Geschichte von der Hausdurchsuchung ist noch nachzutragen, daß sie, wie Elke Sander berichtete, dem Einsatzleiter außerordentlich peinlich wurde, nachdem er sich Zugang verschafft hatte. Alte Leute hatte er ja schon vor der Tür gesehen. Aber die Bücherborde mit Klassikerausgaben, die Spuren ringsum von Fleiß und konzentrierter geistiger Tätigkeit machten den Mann verlegen, bei dem man sich wohl ausrechnen kann, was ihm vorher über die Gefährlichkeit dieser Staatsfeinde erzählt worden war. Gefunden wurde auch rein gar nichts.
Das großzügig bemessene Haus der Sanders verbreitet jedenfalls eine Aura, die mich stark berührte, als wir die Räume betraten. Nicht, daß Bücher einen besonderen Eindruck auf mich machten. Als Buchhändler habe ich schon viele Millionen davon gesehen, mitunter auch sehr konzentriert. Aber dies war keine Handelsware, sondern persönliche Passion eines Ehepaares, wo beide konzentriert geistig arbeiten. Obwohl es sich um ein Haus handelte, das von einer Firma serienweis gebaut und angeboten wird, war die Stimmung des Ortes in einer Weise unverwechselbar, daß sich mir Abend, Nacht und Morgen tief eingegraben haben.
Wie der große Geist aus allen Dingen spricht, die ihn umgeben, so zeigt er sich auch in der Bewegung, im Gang und in der puren Anwesenheit. Ich war mit Hans-Dietrich Sander eigentlich nie allein und auch zu wenig vorbereitet, um ein wirklich tiefgründiges Gespräch zu führen. Dennoch fühlte ich mich an die frühen neunziger Jahre erinnert, als ich mit Rolf Schilling Ernst Jünger in Wilflingen besuchte. Der Hausherr in seinem Reich, das ist ein ganz eigenes Erlebnis.
Aber Hans-Dietrich Sander fasziniert mich nicht nur, er überzeugt mich auch. Dies im Unterschied zu Ernst Jünger, den ich zwar wie ein Einhorn bestaunt habe, aber dessen geistige Welt mir im letzten nicht wirklich nahe kam. Jünger fasziniert in der Haltung, aber nicht in der Philosophie. Was ich bei ihm schätzte, waren Beobachtungen und Einfälle, aber nicht seine Ideen und Gedanken. Auch erweckt ein Werk, das zu weiten Teilen aus Tagebüchern besteht, bei mir gewisse Vorbehalte. Hebbels Tagebücher sind zwar auch ein Schatzhaus, aber ich möchte deswegen seine Dramen nicht missen.
Sanders Profession als Artikelschreiber und Herausgeber ist eine viel bescheidenere als die eines Dichters, aber ein guter Schuhmacher bringt einen dem Ziel näher als ein schlechter Straßenpflasterer. Sander stand die meiste Zeit seines Lebens in der zweiten Reihe und wird erst als einzigartig wahrgenommen, seit jene, die vor ihm standen, gestorben sind. Gemäß dem preußischen Grundsatze »Mehr Sein als Schein« ging es ihm immer mehr um die Sache als um seine Person. Schon dies ist im Jahrhundert der Eitelkeit eine höchst rare Tugend. Zum zweiten fasziniert die Gründlichkeit seines Denkens, die sich nicht mit dem bescheiden will, was vielleicht nötig ist, sondern ausloten möchte, was möglich ist. Dabei schreckt er vor keinem Tabu zurück, nicht aus Lust an der Übertretung, sondern aus denkerischer Gründlichkeit.
Diese Gründlichkeit hat ihn auch um die Frage der Juden keinen Bogen machen lassen. Man weiß, daß in der westlichen Welt diese Religionsgemeinschaft nur in einer Weise thematisiert werden darf, nämlich, als unschuldiges und maßlos leidendes Opfer der Deutschen. Sander hat sich an diese Vorgabe nicht gehalten und gilt deshalb als »Antisemit«. Dieser Titulierung ist schon von daher zu widersprechen, weil das Talmudjudentum und erst recht der Zionismus nur ephemere Überschneidungen mit dem Semitischen haben und man feststellen muß, daß die attackierten Palästinenser im Westjordanland oder im Gazastreifen viel eher für sich in Anspruch nehmen dürften, von den alten Hebräern abzustammen, als dies die Einwanderer können. Unseligerweise nähren Freunde und Feinde der Juden seit langem den Aberglauben, es handle sich um ein Volk im ethnischen Sinne oder eine Rasse. Richtig ist hingegen, daß es sich im Judaismus um eine Ideologie handelt, viel älter als jene, die wir sonst mit diesem Begriffe fassen.
Gewichtiger als dieser begriffliche Einwand erscheint mir ein anderer. Man weiß, daß Friedrich Nietzsche den zeitgenössischen Antisemitismus mit höchster Verachtung strafte und es geradezu als persönliche Beleidigung auffaßte, daß seine Schwester einen Protagonisten dieser Bewegung heiratete. Dies fügt sich schlüssig zu Nietzsches Philosophie. Es darf nämlich kein Zweifel bestehen, daß sich der populäre Antisemitismus des 19. Jahunderts, jener des Nationalsozialismus und auch der heutige aus dem Ressentiment speisen. Der Neid auf den reichen, erfolg- oder einflußreichen Juden ist der Vater fast aller Judenfeindschaft. Daß Nietzsche jenen Trick der »Zukurzgekommenen« für das Grundübel der Welt hält, dürfte bekannt sein.
Hans-Dietrich Sanders Analyse der jüdischen Gestimmtheit, im Falle Otto Weiningers gar eines unter dieser Gestimmtheit besonders offensichtlich Leidenden, ist von heimlicher Bewunderung völlig frei. Er betrachtet Konzeption und Geschichte als tragisch. Aber die Tragödie muß den Aufklärer hervorrufen, und sie tut dies auch. Zweifellos haben die Juden einen höchst überproportionalen Anteil in der europäischen Aufklärung gestellt. Dabei wurde an allen Tabus gerüttelt und zuzeiten Gewalt geübt: der menschlichen Gotteskindschaft, der Ständeordnung, der Sitte -- das geht bis zur Familie und zur Geschlechtsidentität. Aber ein Tabu wurde sorgsam umschifft: daß die volkhaft verstandene Judenheit den heiligen Schrein des Gesetzes hüte und ihn bis zum Ende der Welt behüten werde.
Dies ist nicht etwa eine ausgefallene Grille von Siedlern in der syrischen Wüste, sondern Gedankengut, das die Weltpolitik bestimmt und Schicksale der Völker lenkt. Ein politischer Denker, der diese fundamentale Frage ignoriert, hört auf, einer zu sein.
Zur Gründlichkeit gehört auch, daß sich Hans-Dietrich Sander für keine Mühe zu schade ist, keine Arbeit ist ihm zu niedrig. Ernst Jünger hat sich lieber bestimmte Sätze in seinen Büchern verkniffen, als irgendwann selber einen Verlag gründen zu müssen. Ich schätze das aktive Pathos der Freiheit mehr als die aristokratische Verweigerung. Aber abgesehen von meiner Hochschätzung dieses Charakters, verbinden mich eine ganze Menge Dinge mit Sanders Denken, die sonst kaum gemeinsam auftreten. Da ist zunächst einmal die Selbstverständlichkeit des Christentums im Deutschtum, die Hochschätzung der Pflicht, da ist das unaufgeregte Ernstnehmen der jüdischen Frage, da ist der Horizont auf tausendjährige Geschichtlichkeit in der deutschen Bestimmung, da ist die Verbindung des Entwurfs über Generationen mit den Banalitäten des politischen Alltagsgeschäfts, die Hochschätzung der Klassik aber auch der Einsatz für so viele unbeachtete und vergessene Geister der Literatur und überhaupt eine tiefe Mitmenschlichkeit, die weder von Phrasen noch von Resignation überschattet wird.
Überhaupt ist Hans-Dietrich Sander eher von der Literatur zur Politik gekommen als umgekehrt. Zunächst unfreiwillig durch die Repressionen, die Autoren in der jungen DDR zu erleiden hatten. Die Faszination für Brecht kann ich zwar persönlich nicht nachvollziehen, aber sie muß in jener Zeit ungeheuer gewesen sein. Ich erinnere mich noch gut, wie er in Neustadt ein Urerlebnis schilderte. Er hatte Kiel zunächst zu einem Fünftel zerstört gesehen, wenig später zu vier Fünfteln und resümiert, er habe erkannt, daß die Alliierten keinen Krieg gegen Hitler, sondern gegen das deutsche Volk führten. Das deutsche Volk, die deutsche Kultur, die deutsche Dichtung – das sind Konstanten in Sanders Schriften, der einen weiten Bogen in seinem Leben vollzogen hat und sein Denken und seine Aussagen immer wieder an Ereignissen und den neu zutage tretenden Informationen über die Vergangenheit gerieben hat. Sander fasziniert im Wandel wie in der Treue.
Ich muß zugeben, daß ich in Hans-Dietrich Sanders Büchern wenig gelesen hatte. Als wir die »Staatsbriefe« abgeholt hatten und ich zur Katalogisierung alle Aufsätze der Einzelhefte listete, habe ich mich doch recht häufig festgelesen. Dabei fand ich nicht nur unglaubliche Parallelen des Denkens und Empfindens, sondern auch eine Meisterschaft, der ich mich gern früher anvertraut hätte. Ich bin ja in diesem Punkte mehrmals hart enttäuscht worden und habe mich irgendwann in gar keine Linie mehr stellen wollen. Auch habe ich eigentlich nie politische Denker gesucht, weil ich meinte, daß solche meiner Literatur eher fernstünden.
Schon in Neustadt gab Hans-Dietrich Sander seiner großen Verwunderung Ausdruck, daß wir in München so viele Jahre wenige Straßenzüge voneinander entfernt werkten und uns nie begegneten. Wenn ich heute in den »Staatsbriefen« blättere, so hätte mancher Vers von mir gut hereingepaßt. Aber diese Verse sind erst entstanden, als die »Staatsbriefe« als Periodikum bereits nicht mehr erschienen. Natürlich hätte alles ganz anders kommen können. Rolf Schilling hatte mich schon in den achtziger Jahren auf Hans-Dietrich Sander als einen möglichen Verbündeten, aber auch später auf die »Staatsbriefe« aufmerksam gemacht. Ich bin beiden Hinweisen nicht nachgegangen. Wesentlich stärker als diese Nachlässigkeit berührte mich aber beim Lesen der »Staatsbriefe«, daß dort Erich Lipok regelmäßig Gedichte beisteuerte. Ich hatte ihn einst bei einer Lesung beim »Arbeitskreis für deutsche Dichtung« in Weikersheim kennengelernt, wobei er sich mir fest einprägte. Er stand nämlich nach meiner Lesung von, im übrigen völlig unpolitischen, Gedichten auf, gab mir die Hand und sagte: »Kamerad Lammla (ich darf Sie doch so nennen?)...« Dazu muß man sagen, daß es für Lipok im Grunde nur zwei Menschenarten gab, die einen waren die »Kameraden«, die anderen »Zivilisten«, wobei ich den verächtlichen Ton, indem das zweite Wort gesprochen wurde hier nicht schriftlich wiedergeben kann.
Es gab also durchaus Wege, die zu Hans-Dietrich Sander geführt hätten. Wäre ich sie gegangen, hätte ich wohl ab 2002 die »Staatsbriefe« fortgeführt. Der Zeitpunkt wäre günstig gewesen. Der Laden in der Leopoldstraße war etabliert und der in der Georgenstraße noch nicht mit Ware zugebunkert. Gut hätte ich dort die Redaktion einrichten können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren auch geeignet, ein neues Projekt zu übernehmen. Außerdem hatten die Staatsbriefe hinreichend Abonnenten und waren gewiß kein Zuschußprojekt. Hätte ich mich dieser Aufgabe gestellt, hätte mir die Zeit gefehlt, so viele Angebote von Restauflagen wahrzunehmen. So hätte ich später nicht so viele Bücher nach Neustadt transportieren müssen.
Aber der Konjunktiv in der Geschichte bleibt ein hochmütiges Spiel. Gott wird es besser gewußt haben, daß er es so kommen ließ und nicht anders. Wir stehen im Offenen und sind frei im Herzen. Dies ist entscheidend. Weiteres müssen wir erkämpfen. Während ich diese Zeilen schreibe, bereite ich einen weiteren Besuch in Fürstenwalde vor, der das »Staatsbriefe«-Lager endgültig räumen soll. Ich freue mich auf die neuerliche Begegnung mit dem Denker und auch auf seine Frau. Mögen uns beide noch lange erhalten bleiben, denn ich bin sicher, wir werden noch einiges gemeinsam zuwege bringen.
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