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Nachruf auf Dieter Wolf
Am 7. August 2013 starb in der Universitätsklinik Jena unser Freund und Autorenkollege Dieter Wolf. Könnte er selbst dies in einer seiner Glossen und Kolumnen thematisieren, würde er vielleicht mit der Zahlenmystik des Datums beginnen und feststellen das Quersumme des Datums der Quersumme des Jahres entspricht. Dies ist freilich nicht sonderlich ungewöhnlich, es kommt ja jeden Monat, also zwölf Mal im Jahr vor. Wenn man aber lange genug rechnet, das Geburtsdatum, den Zahlencode des Namens, die geographischen Koordinaten von Jena und die Luftdruck am Tage seiner ersten Liebe einbezieht, kommt man mit bestechender Deutlichkeit zu einem Zeitloch, das hier zum Übergang in eine andere Welt bereitstand. Der Hauptinhalt der Glosse bestünde dann in der Benennung der Schuldigen, die ihn, den Autor, gehindert hatten, das gefährliche Loch rechtzeitig zu erkennen und ihm auszuweichen.
Das Leben als Mißverständnis und mangelnde Rechenleistung -- so hat es uns Dieter Wolf oft in seinen assoziationsüberschwemmten Kolumnen gezeigt. Daß die Rechenleistung dieses Lebenskünstlers ungewöhnlich war, werde ich im weiteren noch deutlich machen. Bei der Betrachtung dieses Lebens drängt sich der Flug eines Kometen auf, der einen prächtigen Schweif hinter sich herzieht und dann jäh und unvermittelt auf einen Planeten einschlägt.
Als ich die Todesnachricht hörte, dachte ich zunächst an einen Verkehrsunfall. Er war täglich zig und oft hunderte von Kilometern mit dem Auto unterwegs, fuhr rasant und oft auch mit Alkohol im Blut, außerdem telephonierte er während der Fahrt -- eine tödliche Unaufmerksamkeit schien wahrscheinlich und zeitgemäß. Nachdem mir versichert wurde, es sei kein Unfall gewesen, vermutete ich einen Herzinfarkt. Er stand im passenden Alter. Er rauchte zwar nicht, aber war sonst allen Genüssen des Lebens sehr zugetan. Vor allem war er aber immer auf dem Sprung. Sein Terminkalender quoll über, und er benutzte jede freie Minute zum Telephonieren. Neben dem Beruf war er in vielerei Weise in der Politik, in der Literatur, auf Messen und Weinfesten aktiv, in Druckereien und beim Gericht, und auch die Frauen waren für ihn kein Bezirk des Ausspannens, sondern immer Herausforderung und Abenteuer, wie sich ja leicht in seinen Schriften nachlesen läßt. Aber der Tod kam auch nicht als Kollaps der Überreizung, nicht als Schlag auf den immer angespannten Körper und konzentrierten Geist, nein, die Diagnose hieß Krebs, ein Leiden, daß man sich als unbegreifliches Siechtum vorstellt und das zu der Plötzlichkeit des Abganges nicht recht passen will.
Ich erlebte ihn zuletzt auf dem Sommerfest des FDA in Ziegenrück. Ungewöhnlich war, daß er am Samstagabend nicht in gewohnter Weise dem Wein zusprach, aber weil sich jeder mal den Magen verdirbt oder von einer Unpäßlichkeit geplagt wird, nahm das niemand ernst. Als ich am Morgen, zum Ärger unseres damaligen Vorsitzenden Claus Irmscher, etwas vorfristig abreisen wollte, bot er sich sofort an, mich zu chauffieren und auf diese Weise selber die Tagung abzubrechen. Im Auto entfaltete er Pläne für die nächsten Jahre. Zahllose Autoren wollte er mit mir besuchen, jede Menge literarische Projekte durchziehen, ja, er prophezeite, daß das westliche System jetzt in die kritische und bald tödliche Phase eintreten würde und wir danach noch eine wesentliche Rolle in der Politik spielen würden. Daß ich danach einige Wochen nichts von ihm hörte, überraschte mich nicht. Immer wieder war er im Nichts verschwunden und von dort unvermutet wieder aufgetaucht. Er rief an und stand eine Viertelstunde später vor der Tür.
Auch meine erste Begegnung mit ihm war in Ziegenrück gewesen, vier Jahre früher, als wir gemeinsam in den FDA eintraten und sich Claus Irmscher zu Lobeshymnen in der OTZ hinreißen ließ. Ich war nach Ziegenrück gewandert, eine Tour die ich mir schon immer mal gewünscht hatten, wenn ich von Weira aus nach Süden blickte. Nun gab sich durch das Fehlen einer Busverbindung und das Stillgelegtwerden der Oberlandbahn die Gelegenheit den Plan auszuführen, zumal das Treffen für den späten Nachmittag angesetzt war. Ich brach früh auf, ließ es nicht an Pausen fehlen, und kam so gutgelaunt an. Auf einer Bank vor der Poetenstube saß Dieter Wolf, er erhob sich und gab mir die Hand. Er stellte sich mit den Worten vor, daß er einst gemeinsam mit Joachim Werneburg ein Schüler Rolf Schillings gewesen war. Damit hatten wir bereits zwei Verbindungen. Als ich später das »Lindenblatt« herausbrachte, führte ausrechnet die Werneburg-Verbindung weiter. Es war ein Buch des ehemaligen Thüringer Verfassungsschutzchefs Helmut Roewer erschienen, über dessen Amtsführung und schließliche Entlassung wilde Gerüchte im Umlauf waren. Ich meinte, ein solches Buch müsse in einer thüringischen Literaturzeitschrift besprochen werden, und Dieter Wolf war zunächst wenig erbaut von meinem Ansinnen, er möge dieses Buch besprechen. Die Lektüre macht ihm jedoch große Freude, wie in der Lindenblatt-Rezension deutlich zu merken ist. Bei seinem nächsten Besuch überraschte er mich mit der Nachricht, daß Roewer in seinem Buch Joachim Werneburg seinen besten Mitarbeiter nenne. Ich erinnerte mich, wie ich einst in München im Netz von Joachims Arbeitgeber erfahren hatte und alles andere als begeistert war.
Für diese Personalie sensibilisiert, entging es mir nicht, daß Jaochim Werneburg nach dem Erscheinen die Ausgabe bestellte, übrigens auf eine seltsam unpersönliche Art und Weise. Dieter Wolf komplettierte das Stück nach seinem nächsten Besuch auf der Leipziger Buchmesse. Er habe gesehen, wie Werneburg das Lindenblatt an Roewer als Geschenk überreicht habe. Nun -- Rower hat das Geschenk damals unbeachtet in den Schrank gestellt, weil er es, wie er mir jüngst erzählte, für eine »kommunistische Postille« hielt. Erst einige Zeit nach Dieter Wolfs Tod hat Roewer bei mir ein anderes Buch bestellt und dann eins und eins zusammengezählt.
Auf der Suche nach brauchbaren Informationen für diesen Nachruf erfuhr ich, daß sich Dieter Wolf nach seinem, und wie sich später zeigen sollte auch meinem, letzten Ziegenrück-Wochenende erst einmal zwei volle Tage lang ausgeschlafen hatte und auch danach schweißtropfend am Frühstückstisch saß. Doch er offenbarte sich niemandem und reiste unter einem Vorwand mit unbekanntem Ziel ab, bis er schließlich seinen letzten Hafen in Gestalt der Unversitätsklinik Jena anlief.
Durch die Geheimhaltung und offensichtliche Verleugnung der tödlichen Krankheit hinterließ er ein Chaos. Im Herbst 1983 hatte er seinen ersten Roman abgeschlossen, den er, wie ich auf der Beerdigung erfuhr, nach meiner Kritik, ich vermißte den roten Faden, noch einmal ungearbeitet, gestrafft und strukturiert hatte. Dieses Werk ist wohl für die Literatur verloren, denn die Erben möchten über diesen Verwandten, dessen Leben und Schreiben ihnen unheimlich ist, das Schweigen breiten. Aber diese Sorglosigkeit in rechtlichen Dingen war kein Novum. Bei seiner mit Frau Kahlal verfaßten Heimatgeschichte »Neunhofen« hatte er einen Knebelvertrag unterschrieben und die Existenz dieses Schriftstücks später vergessen oder für unerheblich gehalten. Die über seinen Tod andauernden Rechtshändel fraßen das Geld, als er vorher als Verkaufstalent für Lindenblätter, Gedichte und Prosa in die Kasse gespült hatte.
Mit dem Rätsel seines Todes wurde allen, die ihn kannten, bewußt, daß er im Grunde schon immer ein Rätsel war. Er gehörte nicht zu den Autoren, die ihre Autobiogaphie ausbreiten. Im Gegenteil, er vermied auch in herzlichen und heiteren Gesprächen alles Private, Freunde hatten kaum eine Verstellung, was der Mann tat, wenn er nicht Literaten oder Poltiker traf oder vor Publikum seine skurrilen und ausgeklügelten Geschichten las. Es gibt Leute, die ein Doppelleben führen, Dieter Wolf führte ein X-fach-Leben. Immer erschien er wie aus dem Ei gepellt im perfekt sitzenden Anzug, sein mächtiges Kreuz vertrauenerweckend in Positur stellend, mit einem gewinnenden Lächeln und ausnehmender Höflichkeit. Kaum denkbar, daß diese Perfektion noch zu steigern war, aber es gelang ihm, sobald ein weibliches Wesen auftrat. Er hatte etwas Unwiderstehliches. Dieter Wolf war den Frauen so zugetan, daß man von Verfallenheit sprechen darf, aber niemals im Sinne eines billigen Genusses. Auf der Beerdigung waren viele attraktive Frauen ohne Begleitung zu sehen, aber es würde ihm nicht gerecht, von Affären zu reden. Dieter Wolf legte es darauf an, daß die Frauen in seiner Huld aufblühten, er bevorzugte intelligente und begabte Frauen, von denen sich etliche wohl ohne ihn niemals getraut hätten, ihre Geistigkeit so zur Entfaltung zu bringen. In Gesprächen erfuhr ich oft, daß aufkommende Bitterkeit von Dankbarkeit für das Erlebte überstrahlt wurde.
Der Widerspruch von exzessiver Gefühlwelt und äußerster Disziplin, ist kein sich ausschließender, im Gegenteil, diese Dinge treten im allgemeinen gemeinsam auf. Leute, die wenig Neigung verspüren, sich zusammenzunehmen und zu konzentrieren, flatterhaft und diffus sind, sind auch diffus in ihren Gefühlen und auch in ihren Ausschweifungen letztlich ziemlich mäßig. Nietzsches Bild vom Baum, dessen mächtige Krone auf weites Wurzelgeflecht in Schlamm und Moder schließen lasse, erweist sich immer wieder als richtig und treffend. Dieter Wolf hatte Größe, nicht nur physisch. Er war von einer unglaublichen Lese- und Bildungswut, nicht nur im Umfang, sondern auch in der Vielfalt. Ihn interessierten nicht nur alle Mythologien, die Geschichte, die Literatur, die Politik, sondern auch die Technik und Naturwissenschaft. Als Buchkäufer verblüffte er mich regelmäßig durch ausgefallene Wünsche, gleichzeitig war er aber auch für so viele Dinge zu begeistern, daß er mein Bücherlager niemals verließ, ehe seine Brieftasche leer war. Dieter Wolf hat dreimal studiert und war im Grunde ein ewiger Student. Zunächst Fernmeldetechnik, später Theologie und nach der Wende dann auch noch Philosophie. Er war eine Zeitlang bei der CDU, als Schöffe bei Gericht, hatte Familie mit Kindern, und auf der Beerdigung waren jede Menge Kleriker zu sehen, die sich ihm verbunden fühlten.
Die Trauerfeier fand in Triptis statt, vom FDA waren Hansjörg Rothe, Alexander von Hohentramm, Ronny Ritze, Kerstin Klare, Oliver Guntner und ich angereist. Es war eine Urnenbeisetzung, ich nehme an, aus Kostengründen, denn der Nachlaß war im Saldo negativ. Ich habe Urnenbeisetzungen, welche die lutherische im Gegensatz zur katholischen Kirche erlaubt, nie gemocht. Zunächst einmal finde ich es unpassend, den Verfall des Körpers auf brutale Weise zu beschleunigen, das hat etwas von der Herzlosigkeit dieser schnellebigen Zeit. Zudem ist mir die Vorstellung, den Körper eines geliebten Menschen einem industriellen Betrieb, genannt Krematorium, zu überlassen, ausgesprochen widerwärtig. Zum dritten verliert auch das Ritual der Bestattung ganz wesentliche Elemente. Schon die Kleinheit der Urne verhindert ein angemessenes Verneigen vor dem Toten, erst recht bei einem so wuchtigen Körper wie Dieter Wolf. Der Weg zum Grab mit so geringer Last hat eine gewisse Albernheit. Zwar wird heute auch bei Erdbestattungen der Sarg auf einem Karren gefahren und nicht mehr getragen, aber dennoch ist die Belastung der Physis noch offenbar. Das Herablassen des mächtigen Sarges in die Grube kann vergessen machen, daß auch die Grube heute vom Bagger geschachtet wird. Immerhin ein gewaltiges Loch, zu dem die Handvoll Ende, die wir auf den Sarg werfen, in sinnträchtigem Kontrast steht. Das alles ist natürlich mit einer Urne nicht machbar.
Die Familie wollte das Ärgernis rasch hinter sich bringen. Deshalb gar es auch keine Begegnung der Traugemeinde beim Tee danach. Immerhin wurde ich von einigen Trauernden angesprochen. Die drei Redner in der Kapelle brauchten zum Ausdruck, daß Dieter Wolf ein faszinierender aber auch unbegreiflicher Mensch gewesen sei. Ist das Rätsel sein letztes Wort?
Für den FDA begann mir dem Tod Dieter Wolfs eine chaotische Zeit. Dieter Wolfs hochgerühmte Gabe zum Schlichten von Konflikten lief genau betrachtet meist auf eine Vertröstung für die Zukunft hinaus. Mancher wird sich gar nicht mehr erinnern, was ihm alles versprochen wurde. Aber unser damaliger Vorsitzender Claus Irmscher muß wohl geglaubt haben, die Stunde für »Falkenflug« und »Abenteuer Erfurt« käme noch, das »Lindenblatt« würde letzen Endes doch noch sein Sprachrohr werden und seinen Platz in der deutschen Literaturgeschichte unauslöschlich machen. Er war gerade auf Urlaubsreise im Ausland, als Dieter Wolf starb. Zurückkehrt ärgerte es ihn, daß die Mitglieder selbst die Initiative ergriffen hatten und seine verspäteten Ideen als überflüssig abgetan wurden. Dieter Wolf hätte diese und weitere Verstimmungen vielleicht geglättet und den status quo erhalten. Freilich werden auch Chancen vertan, wenn Konflikte immer unter den Tisch gekehrt werden.
Da sich Dieter Wolf in seiner Literatur in besonderer Weise der mittelalterlichen speculatio verpflichet fühlte, in induktiven Assziationsketten fremde Länder und nicht selten das Weltall bereiste, um dort für einen unverhofften Zirkelschluß präsent zu sein, gestatte ich mir auch Spekulation am Ende dieses Nachrufs. Wie schon angedeutet, stand Dieter Wolf der modernen Technik nicht nur aufgeschlossen gegenüber, er war geradezu hingewissen von den Organisationsfähigkeiten dieser kleinen Wunderwerke. Jedesmal, wenn ich ihn im Auto begleitete, war sein Navigationsgerät ausgetauscht, geupgradet, wie man wohl heute sagt. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß seine größte Liebe der Mythologie galt und seine Politikkonzeption antimodern, ständisch und hierarchisch war. Er meinte, wie Faust, den Teufel einspannen zu können, für seine unersättliche Sucht nach Wissen und Bildung, aber auch nach dem Leben, nach Arbeit, Liebe, Rausch und Vergeistigung. Ich glaube, sein Mephistopheles war das Mobiltelephon. Es ist ihm niemals passiert, daß dieses lästige Ding während einer Besprechung klingelte, er stellte es rechtzeitig aus. Die meisten Gespräche führte er im Automobil, und wenn ich auf einer längeren Fahrt um einen Zwischenhalt für eine Zigarette bat, war ihm dies niemals lästig. Im Gegenteil, ich rauchte bei dieser Gelegenheit oft zwei oder drei Zigaretten, weil der parkende Fahrer keinerlei Anstalten von Ungeduld machte, sondern fortwährend telephonierte. Mein Aussteigen schaffte ihm wohl Raum für Adressaten, bei denen Mithörer unerwünscht sind. Aber auch während der Fahrt telephonierte er und behielt dabei die Straße und das Navigationsgerät sicher im Blick.
Das Telephonieren im Automobil hat sicher den Vorteil, daß keine Geräusche über den Äther dringen, die Anhaltspunkte über den Ort des Sprechenden erlauben, ausgenommen das Unterwegssein. Und dies war ja nun gegenüber nirgendwem ein Geheimnis: Dieter Wolf war immer unterwegs, zu Sitzungen, Lesungen, Terminen. Würde man diese Mobilfunkgespräche drucken, sie sind ja sicher bei der NSA gespeichert, ergäbe sich vielleicht ein ähnliches Bild wie in einigen Geschichten Dieter Wolfs, wo fortwährend kommuniziert wird, jeder versteht, was er hören will, aber gewiß nicht den anderen. Also Kommunikation total oder Kommunikation der Kommunikation. Man sieht, das kleine, magisch anmutende, Gerät ist nicht nur Ziel und Auslöser eines Strahlenbündels physikalischer Art, sondern auch ein Knoten, im Informationsnetz zum einen, aber auch ein Knoten in der Persönlichkeit. Vom Wort Knoten ist es nicht mehr weit zum Wort Krebs. Ich erfuhr von einer Vertrauten, daß Dieter Wolf seit längerer Zeit eine längliche Geschwulst am Hals unter dem Ohr hatte. Bitten, zum Arzt zu gehen, beantwortete er mit der Ausrede, die Verdickung käme vom Zahn, und der Zahnarzt hätte versichert, sie würde von selber nach einiger Zeit verschwinden. Glaubwürdig ist das nicht, aber wer hört nicht irgendwann mit dem Drängeln auf, wenn der Widerstand so entschieden ist, daß man die Nutzlosigkeit verdorbener Stimmung nicht leugnen kann.
Krebs ist eine Krankheit, die in den letzten Jahren immer häufiger auftritt und jeder kennt Opfer. An die Erklärung, diese Todesursache nehme zu, weil viele andere gebannt seien, glaubt keiner mehr recht, denn die Opfer werden immer jünger. Eine Zeitlang wurde vor allem vor der Sonnenstrahlung gewarnt, der Sonnenbrand sei der erste Schritt in einen solchen Tod. Dann wurde die Schuld im Zigarettenrauchen gesucht, und da nicht alle Krebstoten Raucher sind, die Panik gestreut, das Passivrauchen sei vielleicht gar noch gefährlicher als das Aktivrauchen. Es mag sich ja mit all diesen sogenannten Risikofaktoren verhalten, wie es will, aber sicher scheint mir, daß die Worte »Krebs« und »Strahlung« etwa gleichalt im allgemeinen Sprachgebrauch sind. Marie Curie, die Entdeckerin des Radiums, starb an Anämie, zu deutsch Blutarmut, was bedeutet, daß die Hämoglobinkonzentration kritisch absinkt. Dies galt bis dahin als Erbkrankheit. Der Verdacht, daß in ihrem Falle der Umgang mit radioaktiven Substanzen Ursache war, wurde früh laut, auch bei Becquerel, dessen Name heute als Maßeinheit für die Strahlendosis verwendet wird. Seit die Kernspaltung militärisch eingesetzt wurde, ist allgemein bekannt, daß die Strahlung zu Erbgutschädigung und Leukämie, also Krebs führt. Aber auch die Rhöntgenstrahlung, etwa zeitgleich in dieser so strahlungsorientieren Wissenschaftszeit entdeckt, kam bald schon in Verruf, der Zauberblick ins Innere des Körpers oder auch in die Zähne wurde schon bald limitiert. Bei langwelligerer elektromagnetischer Strahlung sind jedoch die behördlichen Grenzwerte sehr hoch, Milliarden mal höher als die natürlichen Strahlung, obwohl es Untersuchungen gibt, daß schon die Strahlung der Sonne bei zeitweilig erhöhter Aktivität zu krassen Folgen bei Mensch und Tier führt. Mit dem Aufkommen von Radios und erst recht von Fernsehern wurde die Landschaft flächendeckend verstrahlt. Daß dies mit der Mobilfunktechnik geradezu exponentiell gesteigert wurde, kann jedes Kind begreifen. Inzwischen sterben ja schon die Bienen aus, weil sie sich im Elektrosmog nicht mehr zurechtfinden.
Dieter Wolfs Geschwür am Hals trat genau an der Stelle auf, wo ihm seit Jahren das Mobilfunkgerät der liebste Freud war. Mephisto, der endlich doch zuschlägt?
In Dieter Wolfs Arbeits- und Lebensmanie nahm der Pfarrerberuf eine mäßige Stellung ein. Als ich ihm zu seinem Turmknopf-Buch die Kritik des Setzers mitteilte, es fehle in seiner Darstellung der Bezug zur Frohen Botschaft, stöhnte er, er sei es leid, daß die Leute derartige Erwartungen an ihn hätten. Die Kirche war für ihn eher ein politischer Raum als ein Ort der Seelsorge, und ich stehe mit der Meinung nicht allein, daß er außerhalb der besonderen Bedingungen in der DDR nicht ausgerechnet Theologie studiert hätte. Als ich ihm meine Schallplattenaufnahme »Questenberg« vorspielte, meinte er zustimmend, »Ja sicher, ein neues Reich braucht auch neue Musik«, und fügte hinzu, als nächstes solle man an die Komposition einer Opfer gehen. Die Glaubens-Aussagen meiner Gedichte interessierten ihn wenig. Fromm kann man ihn sich eigentlich nicht vorstellen, Reue und Buße kamen kaum in seinem Wortschatz vor.
Ich habe Dieter Wolf als einen faustischen Menschen geschildert. Vielleicht darf man deshalb auch an das Ende von Goethes »Faust« erinnern. Der Sterbende bleibt in seinem Wahn, er phantasiert von Neuland, schwelgt im Machbarkeitswahn, während sein Grab geschaufelt wird. Aber der Herr erlöst ihn dennoch. Unverdient und unbegreiflich -- und sich kein Bild von Gott machen, heißt ja letztlich, nicht auf Gottes Absichten spekulieren. Aber wenn ich auch nicht auf Dieter Wolfs Erlösung spekulieren darf, so sind wir doch gehalten, zu vertrauen, und so vertraue ich darauf, daß der Herr an unserem guten Freund das Beste getan hat und tun wird in Ewigkeit.
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