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Deutsche Dichtung?
Wir leben in einer Wegwerf-Gesellschaft. Diese Aussage ist heute geradezu ein Gemeinplatz und stellt kein politisches Bekenntnis dar. Die Geister scheiden sich erst dann, wenn man spezifiziert, in welchen Bereichen man diesen Umstand für besonders ärgerlich hält und in welchen man die Kurzlebigkeit gar für gut und bereichernd hält. Daß jemand die Aussage in vollem Umfange ernst meint und nicht nur dahergeredet, kommt kaum einem Hörer in den Sinn. Und wenn doch, weil der Redner betont, daß er nicht mit der üblichen Floskel verwechselt werden wolle, dann hält man sein Trachten für museal. Dieses Mißverständnis ist noch gröber. Wenn jemand fordert, ein Gebrauchsgegenstand, nehmen wir mal ein Möbelstück, solle so beschaffen und hergestellt sein, daß er noch Kindern und Kindeskindern vererbt werden könne, und nicht etwa so, daß er spätestens beim nächsten Umzug zum Grobmüll wandere, zeigt damit genau das Gegenteil einer musealen Gesinnung. Denn Museen sind nicht etwa Ausdruck einer auf Dauer und Gleichgewicht angelegten Gesellschaft, sondern Feigenblatt jener, die sich nicht mehr trauen, auf Augenhöhe ihren Ahnen gegenüberzutreten.
Als man die gotischen Dome baute, riß man die romanischen Vorgänger zur Materialgewinnung ab. Nicht weil man sie mißachtete, sondern weil man sie zu übertreffen vorhatte. Schöpferische Zeiten sind niemals museal. Gleichwohl sind sie Bewahrer. In den Klöstern des Mittelalters wurden die Bibliotheken der Antike durch Abschreiben bewahrt, wohlgemerkt, nicht der tote Stoff, sondern der Geist. Der moderne Mensch stellt sich dies als eine völlig geistlose Tätigkeit vor. Das war sie gewiß nicht. Jeder, der einmal ältere Handschriften zu entziffern hatte, weiß, daß die Bewahrung ein schöpferischer Vorgang ist, der Bildung, Phantasie und Liebe zum Geiste erfordert.
Die Geschichte des Arbeitskreises für deutsche Dichtung, ist auch eine Geschichte der Problematisierung seinen Namens und des Anspruchs, der dahintersteht. Dieser Name ist nur in der Nachkriegszeit vorstellbar. Vor dem Krieg gab es zahllose Kreise, die sich inhaltlich alle so hätten nennen können, es aber nicht taten, denn in diesem Namen hätte kein Alleinstellungsmerkmal gelegen. Da jeder Verein, ob eingetragen oder nicht, im Namen unverwechselbar sein möchte, wäre eine so allgemeine Titulierung undenkbar gewesen. Die Gründung dieses Kreises setzt also eine Situation voraus, wo »deutsche Dichtung« nicht mehr das selbstverständliche Anliegen literarisch interessierter Leute in Deutschland ist.
Was hat es also mit der »deutschen Dichtung« auf sich? Ist »Dichtung« nicht ein veraltetes Wort für Literatur? Klären wir zunächst den Begriff Literatur. Auch hier ist nicht alles Geschriebene gemeint. Eine Steuererkärung ist keine Literatur, auch nicht die Gebrauchsanweisung für den Staubsauger. Allerdings gehört Johannes Keplers »Astronomia Nova« zur Literatur. Schon dem Literaturbegriff wohnt der Imperativ zur Dauerhaftigkeit inne, wir merken also, daß die Beständigkeit nicht zur Unterscheidung der Begriffe Dichtung und Literatur taugt. Im angelsächsischen Buchhandel wird die Literatur zuerst in »fiction« und »non-fiction« unterschieden. In Deutschland hat sich dies nie durchsetzen können, wohl weil wir Deutschen ein Gefühl dafür haben, daß Texte mit erfundener Handlung oft viel näher an der Realität liegen als eine sich objektiv gebende Dokumentation. Das angelsächsische Begriffspaar ist uns eine Herabsetzung der Schönen Literatur gegenüber der Sach- und Fachliteratur, unsere Begriffe betonen den ästetischen Wert und nicht die Fiktionalität des Inhalts. Decken sich also die Begriffe Dichtung und Schöne Literatur?
Nein. Dichtung ist meistens Schöne Literatur, wenn wir vernachlässigen, daß wir auch manchem Traktat, manchem Essay, mancher Aphorismensammlung Dichtungseigenschaften zubilligen, obwohl sie eher zur Philosophie oder anderen Wissenschaften gehören als zur Schönen Literatur. Schöne Literatur ist freilich nicht gleichmäßig schön. Das behaupten auch jene nicht, die den Begriff Dichtung nicht mögen. Sie unterscheiden zwischen gehaltvoller Schöner Literatur und Trivialliteratur. Trivial ist dabei nach Ansicht des Unterscheidenden alles, was auf unmittelbare Zustimmung zielt, polemisch formuliert, auf »dumpfe Instinkte«, gehaltvoll dagegen jenes, was »auf der Höhe der Zeit« wirkt. Eine solche Zuordnung, sollte sie denn verbindlich möglich sein, setzt eine umfassendes Zeitbewußtsein voraus. Natürlich meinen die Herrschenden jeder Zeit, ihr Recht zur Deutungshoheit sei offenkundig wie ein Naturgesetz. Damit folgt die Unterscheidung gehaltvoll und trivial letzlich einem politischen Programm, das zwar von Generation zu Generation variiert, aber immer von Machfragen diktiert ist.
Der Begriff »Dichtung« ist nicht von oben, also von den Kultur- und Schulpolitikern, den Verlegern und Filmproduzenten, den Kritikern und Kolumnenschreibern bestimmt, sondern von unten, vom Volk. Und zwar nicht vom Volk als Abstraktum, sondern immer von einem konkreten Volk. So gibt es neben der deutschen Dichtung zahllose weitere Dichtungen, aber eben keine Welt-Dichtung, keine übernationale Dichtung, denn jede Dichtung ist genau an ein Volk gebunden. Aus diesem Grunde kommt auch die Dichtung in eine Krise, wenn das Volk in eine Krise kommt, und ich will gleich im Eingang betonen, daß dies schon lange keine deutsche Exklusivität ist, alle Völker der Welt sind in der Krise.
Das Wort »Volk« ist fast noch anstößiger als das Wort »Dichtung«, »völkisch« gilt als abgrundtief verbrecherisch, jemand, der dieses Wort nicht verabscheut, rechtfertigt damit alle Verbrechen, die Leute begangen haben, die dieses Wort für sich beansprucht haben, und fordert angeblich die Wiederholung, wenn nicht gar Steigerung dieser Verbrechen. Solche Wortverbote sind methodischer Blödsinn. Wer atmet, ißt und trinkt wie ein Mörder oder auch sonst tausende Gemeinsamkeiten mit ihm hat, ist dennoch kein Mörder, solange er nicht mordet. Das Wort »völkisch« meint lediglich »im Volke wurzelnd«, und dies tut Dichtung immer, weshalb es eine Tautologie ist, von völkischer Dichtung zu sprechen.
Das Volk ist freilich nicht dem Konstrukt zu verwechseln, das die verschiedenen Sozialismen als Gottesersatz postulieren. Lebendig kann das Volk nur als Teil der Schöpfung begriffen werden und damit beseelt vom Schöpfer. Der Geist eines Volkes ist nicht die Summe des Geistes einzelner, sondern ein Mysterium eigener Art, denn Gott schuf die Wesen der Welt in ihrer Art. Der Mensch ist nicht als Einzelwesen geschaffen, sondern als organischer Teil von Familie, Stamm und Volk. Dies haben schon die Heiden erkannt, und daran wird sich bis zum Jüngsten Tage nichts ändern.
Nun wird behauptet, die besonderen Bedingungen unserer Zeit verunmöglichten eine Verwurzelung, und an diesem Einwand scheint richtig, daß die Gegenwart dem Genius der Dichtung nicht hold ist. Aber läßt sich das überhaupt innerhalb einer Zeit beurteilen? Während der Völkerwanderung hätten Neumalkluge diese These noch viel nachdrücklicher vertreten können. Aber aus der Völkerwanderung gingen die ganzen großen Sagenkreise Europas hervor, an welche die Dichter jahrhundertelang anknüpften. Die Völker werden niemals verschwinden, es werden nur einzelne untergehen. Der Untergang des deutschen Volkes scheint mir auch im nächsten Jahrhundert höchst unwahrscheinlich, zu diesem Untergang müßten sich ja stärkere und gesündere Völker an seine Stelle setzen. Die sehe ich nirgendwo gegen uns aufstehen.
Alle diese Bedenklichkeiten und dummen Ausreden schweigen sofort, wenn ein wirklicher Dichter zu uns spricht, wenn der deutsche Volksgeist, wie wir ihn im Volkslied, in Märchen und Sagen, aber auch in den Stimmen der Klassik und Romantik lieben, eine Stimme findet. Wir spüren dies unmittelbar, nicht durch ein Abwägen der politischen Folgen oder möglicher Mißverständnisse. Wir wissen wieder, was es heißt, Deutscher zu sein, und daß unsere Sprache eben nicht ein beliebiges Mittel zum Informationsaustausch ist. Die Sprache ist unsere Identität. Die Wortverwandschaften, der Reim, der Duktus von Steigerung und Entspannung -- dies alles ist Ausdruck unserer uneigenen Geschichte und des göttlichen Auftrags, der im Wesen unseres Volkes liegt, wobei die Zukunft ausdrücklich eingeschlossen sei. Wer dies verleugnet, beraubt sich eines großen Glücks. Wer sich nicht traut, dieser Stimme zu folgen, braucht die Hilfe der Gemeinschaft. Der Arbeitskreis hilft zu erkennen, daß die deutsche Dichtung nicht tot ist, wie gewissenlose Leute behaupten, er hilft, sie zu finden und für sich zu entdecken.
Und damit komme ich auf den Eingang zurück. Der Arbeitskreis ist kein museales Unterfangen. Er verbindet das Erbe mit der Dichtung unserer Zeit. Daß es sie gibt und daß sie wert ist, gehört und am Erbe gemessen zu werden, hat er schon 57 Jahre lang mit Vorträgen, Lesungen, Druckschriften und Büchertischen gezeigt. Aber mehr als dies: hier werden Erbe und schöpferische Gegenwart nicht nur verwaltet, sondern ins Leben eingebunden, in Freundschaften, Liedern und Geselligkeit. So findet die Dichtung, die im Volk wurzelt, wieder zurück zum Volk, und die Zahl, so sehr wir uns eine größere wünschen, ist dabei nicht entscheidend.
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