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Basch Tschellik und der Lumpensammler

Es begann ganz harmlos. Matthias, den ich meinen »Fast-Cousin« nannte, weil er aus der ersten Ehe des Freundes meiner verwitweten Tante stammte, war zu Besuch. Er war zwei Jahr jünger als ich und stand damit zwischen mir und meinem Bruder Jens, außerdem kam er aus Berlin und trug eine ungewöhnliche Note in unsere ländlichen Spiele. Wir spielten Räuber und Gendarm, und Matthias war natürlich der Gute. Jens war wie selbstverständlich bereit, die Rolle des Bösewichts zu übernehmen. Er gab sich auch gleich einen Namen, nämlich Kieritzsch, wie der Rangierbahnhof an der Strecke Leipzig-Altenburg. Und natürlich führte er eine Bande an, und damit trat die »Gaunerbande von Kieritzsch« in die Welt, wenngleich nur fiktiv. Sie überlebte ihren Schöpfer, denn als dieser von tödlichen Kugeln getroffen wurde, zauberte er einen Bruder des Räuberhauptmannes aus dem Hut, der problemlos vom selben Darsteller gespielt werden konnte, weil er als Typus diesem zum Verwechseln ähnlich war.
Die Sache wäre längst vergessen, wäre nicht während des Spiels die Selbstreferenz aufgetaucht, man müsse die Handlung aufschreiben, weil sie doch so ungewöhnlich in ihrer Üppigkeit und Eigenheit sei. Dadurch veränderte sich das Spiel, denn die Beteiligten waren sich bewußt, daß ihre Taten und Worte aufgezeichnet würden. Außerdem veränderte sich der Rahmen. Wir wurden nämlich zum Abendbrot gerufen, und um dies weder zu verweigern, noch mit dem Spiel zu pausieren, bezogen wir die Umgebung und auch meine Eltern ein. Meine Mutter spielte ein bißchen mit, und meinem Vater, der dazu wenig Neigung zeigte und sich aufs Sofa zurückzog, wurde die Rolle des verschlafenen Gastwirtes verpaßt, der gar nicht recht merkt, was in seinem Hause so vorgeht, etwa, wenn sich seine Gattin bestechen läßt, einen Geheimgang zu offenbaren, in dem wenig später eine Schießerei stattfindet.
Mit der Idee des Aufschreibens mußte auch der Kommissar benamt werden, und es wurden auch einige unbrauchbare Vorschläge gemacht. Matthias schlug schließlich den Namen Basch Tschelik vor, eine Figur, die mit dem Beinahmen »der eherne Fürst« in Märchen des serbischen Schriftsteller Oskar Davico auftrat. Zweifellos ein Held mit ungewöhnlichen Eigenschaften und Waffen. Ich wußte das damals nicht. Der Wortklang war mir völlig ausreichend. Erst als ich später nach der Herkunft meines ungewöhnlich benamten Polizisten gefragt wurde, bemühte ich mich um die Herkunft des Namens.
Der Held und der Gauner, die Dreiheit sollte mein Teil vervollständigen. Es mag dahingestellt bleiben, ob hierin ein kindlicher Sinn für Dialektik zu sehen sei, ich wählte für mich eine ambivalete Figur, die keinen Namen hatte, sondern mit dem Beruf »der Lumpensammler« bezeichnet wurde. Der Lumpensammler kam wohl in einer der ersten Szenen dadurch zustande, daß ich ein Bündel alter Zeitungen in den Schuppen brachte und auf die harrsche Frage des Kommissars nach meiner Identität antwortete, ich sei der Lumpensammler. Immerhin war gerade das Schmuckgeschäft überfallen und zum Spuren-Verwischen abgezündet worden, und ich befand mich zur falschen Zeit am falschen Ort.
Der Lumpensammler kannte sich in der Unterwelt aus, insbesondere bei den semiprofessionellen Gaunern wie etwa dem Bäcker, der später eine Eisensäge ins Brot buk, um die Flucht aus dem Gefängnis zu ermöglichen. Basch Tschellik, der große Held, hätte ziemlich alt ausgesehen, hätte er nicht auf diese Quelle zurückgreifen können. Er verstand sich aufs Schießen und traf auch bei Gegenlicht. Aber in welchen Lokal die Bande gerade den erfolgreichen Raubzug feiert, das konnte immer nur der Lumpensammler vermuten. Bei Razzien wurde kurzer Prozeß gemacht, Überlebende gab es nur im Weinkeller, wo gerade der Nachschub organisiert wurde und dies war ein Panne, die sich bitter rächen würde. Denn ein Überlebender fand natürlich rasch neue Anhänger und Helfershelfer.
»Basch Tschelik« sollte mein einziges literarisches Werk bleiben, das ich in voller Länge handschriftlich abgefaßt habe. Als Linkshänder, der zum Rechtsschreiben genötigt wurde, hatte ich meist eine »Klaue«, die mir selber zu lesen schwerfällt. Als ich 19jährig meine erste Schreibmaschine, ein tschechisches Modell von sehr bescheidener Qualität, kaufen konnte, war dies einer der glücklichsten Tage in meinem Leben. Der erste Teil des »Basch Tschelik« entstand unmittelbar nach Matthias' Abreise und wurde bei der Niederschrift mit einigen Details ausgeschmückt. Ich war völlig unbedarft in der Kriminalliteratur, ich erinnere mich etwa, daß mir mein Vater das Wort »Alibi« nannte, mit dem ich mich etwas passender ausdrücken könne. Die Welt des Krimi nahm erst einen gewissen Einfluß, als ich beim Spielen des dritten Teiles einen Partner fand, der da eine gewisse Vorbildung mitbrachte. Es war nämlich so, daß ich im Sommerurlaub meiner Eltern im Bungalow meiner Tante am Gorinsee in Schönwalde einen zweiten Teil erfand und niederschrieb, einen dritten im Winterurlaub in Limbach bei Steinheid im Thüringer Wald.
Wenn ich später als Erwachsener in meinem mit zehn bis elf Jahren verfaßten Werk las, machte es gerade den besonderen Reiz dieser Niederschrift aus, daß sie so völlig frei war von Logik und Psychologie heutiger Unterhaltung. Die Räuber rauben nicht aus Not oder Gelegenheit, sie rauben, weil sie Räuber sind. Und wenn sie nicht gerade rauben, so sind sie auf der Flucht oder sie feiern den letzten Raub oder sie bereiten den nächsten vor. Und der Polizist ist bestrebt, alle Räuber auszurotten, was ihm aber nicht gelingt, weil die Natur des Verbrechens unendlich ist. Die »Dialektik« des Lumpensammlers wird übrigens nicht lange durchgehalten. Einmal an der Seite Basch Tschelliks, trottet er letztlich wie ein treuer Hund immer weiter an der Seite des Helden, so als habe er sich einfach an die neue Rolle gewöhnt. Basch Tschellik ist natürlich völlig selbstherrlich und durch keinerlei Bürokratie eingeschränkt, und daß er seinen Helfer mit durchfüttert ist doch selbstverständlich.
Als ich mein fertiges Werk zwei Lehrerinnen zum Lesen überließ, gab es Ärger zuhause. Meine Ausrede, es sei doch nur eine gewesen, stieß auf das Wissen, daß es mindestens zweie waren. Ich käme ins Gerede. Ich verstand die Welt nicht mehr, aber ich fügte mich drein, das Manuskript im Kämmerlein verstauben zu lassen. Meiner Passion für Geschichten folgte nun eine für Sprengstoffe, und ich hatte bald ein Labor, von dem aus ich mit Freunden regelmäßig zu Feldversuchen auszog. Als ich Matthias vor einigen Monaten nach langer Zeit wiedersah, zitierte ich mich aus dieser Zeit mit den Worten: »In wenigen Sekunden erfolgt die Detonation.« Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Als ich nach dem Abitur den Dichter Rolf Schilling kennenlernte, kam wieder die Rede auf »Basch Tschelik«, weil Schilling im nämlichen Alter auch Abenteuergeschichten vielfältiger Art verfaßt hatte. Schilling war sehr neugierig auf meine kindliche Fabulierei und die Art von Bessenheit, die man schon früh zeigt, wenn man den Musen verfallen ist. Als Michael Schindhelm, damals auf Urlaub von seinem Studium in Rußland, gleichzeitig mit Schilling in Neustadt zu Besuch war, bat mich Schilling beim Rotwein zu vorgerückter Stunde, das Manuskript hervorzukramen. Schilling las dann mir und Schindhelm den ganzen Text vor, und wir wurden des Lachens nicht müde.
Wenig später reiste ich nach München aus, und »Basch Tschellik« verschwand mit vielen anderen Papieren in Umzugskartons, aus denen er bis heute nicht wieder herausgekommen ist. Ich meine zwar heute nach Jahren des Exils mein dauerhaftes Domizil gefunden zu haben, aber ich bin in fünf Jahren nicht dazu gekommen, mich richtig einzurichen. Sogar meine Privatbibliothek ist noch in großen Teilen verpackt, erst recht die vielen Papiere aus allen Zeiten. Aber ich denke, die Zeit des Sichtens und Ordnens ist noch nicht gekommen, denn ich habe so viele Pläne. Sollte sich aber einmal jemand für meine Kindheit interessieren, bleibt »Basch Tschellik« eine wichtige Quelle, denn alle Tagebücher, die ich als Kind führte, habe ich noch in der Jugend vernichtet.