Willkommen

Lebenslauf

Aktuell

Werke

Publikationen

Audio

Leserstimmen

Besucherbuch

Impressum
  A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | K | L | M | N | O | P | Q | R | S | T | U | V | W | Z


voriger EssayAus: Testament eines Goldkorns nächster Essay

Wo der Pfeffer wächst

Wenn Heidegger meint, man müsse »aus der Verfallenheit an das Sein eintreten in die Entschlossenheit«, so war dies schon im zartesten Alter meine Maxime. Ein frühes Gedicht enthält den Vers »und fremd all den Bedenklichkeiten Dritter«. So ist es und so bleibt es. Mögen andere ihre Zeit auf das Für und Wider verschwenden, ich marschiere am liebsten sofort los. Es ist mir unerträglich, wenn eine gute Idee unverwirklicht bleibt.
Mein Elternhaus war das letzte Gehöft einer Reihe, die beginnend vom Schloß Arnshaugk auf den Hügel gewachsen war. Am Gartenzaun, der von einer dichten Reihe Johannisbeersträucher fast verdeckt war, begannen die Weizenfelder. Ein Schotterweg führte noch ein wenig bergauf zu einem uralten Friedhof, der im hinteren Teil auch herrschaftliche Gräber bewahrte. In der Ferne war das Dorf Moderwitz zu sehen. Von dort fuhren oft Pferdefuhrwerke am Haus vorbei in die Stadt. Automobile gab es fast keine.
Meine Eltern arbeiteten beide in der Industrie, und so gab es kaum noch Landwirtschaft auf dem Hof. Die Schweineställe waren verwaist. Es gab noch zehn Hühner, die in eine Abteilung zwischen Hof und Garten gepfercht waren, aber Auslauf in die sozialistischen Felder hatten. Sie liebten dies besonders dann, wenn Mais angebaut wurde. In den Vorderhof durften sie nicht, dort war Rasen und Kinderspielplatz. Mein Vater legte einen etwa 10 Quadratmeter großen Sandkasten mit hölzerner Umrahmung an. Der Sand war rötlich und etwas lehmig, er pappte vortrefflich beim Burgenbau. Im Dachgeschoß wohnte noch eine unverheiratete Lehrerin mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Holger, der in meinem Alter war. Als ich drei Jahre alt war und die folgende Geschichte spielt, wußte ich noch nicht, daß er Leukämie hatte und nach Jahren mit zahllosen Folgekrankheiten und oft abenteuerlich klingenden medizinischen Behandlungen in der Universiätsklinik Jena sechzehnjährig sterben sollte. Im Sandkasten war mitunter noch ein dritter Junge dabei, der ein paar Häuser weiter wohnte. Oft waren wir aber zu zweit.
Die beiden ungleichaltrigen Damen wurden mit den Präfixen »Frau« und »Fräulein« unterschieden und galten als eigenartig, was mir schon sehr früh geläufig war. Man wußte nicht recht, wo sie herkamen, und sie hatten vermögende Verwandtschaft im Westen. Sie waren als Mieter sehr selbstbewußt und kannten ihre Rechte. Meinen Eltern erschienen diese oft sehr unverhältnismäßig im Hinblick auf die staatlich festgesetzte sehr niedrige Miete. Allerdings bemühten sie sich, diese Spannungen von den Kindern fernzuhalten.
Holger mochte mit mir auch seine Probleme haben, aber im Grunde waren wir unzertennlich. Es war damals für jedes Kind ein selbstverständliches Bedürfnis, so oft und so lange wie möglich außerhalb der elterlichen Wohnung zu sein. Vor einiger Zeit sah ich ein Buch über Kinderspiele der 60er Jahre mit dem treffenden Titel: »Damals spielten wir noch draußen«.
Holgers Oma fiel oft durch ungewohnte Redewendungen auf, und es war jedermann klar, daß sie aus einer ganz anderen Umgebung stammen mußte. Einmal schnappte Holger die despektierliche Rede »spottet jeder Beschreibung« auf und verband sie wichtigtuerisch mit meiner Großmutter. Es war sonst nicht meine Art zu petzen, aber ich hatte die Rede nicht verstanden und suchte Aufklärung. Als ich nun meiner Großmutter die Titulierung hinterbrachte, nahm sie die Sache unvermutet ernst, war ganz betroffen und bemühte sich verzweifelt, den Grund für dieses Apodiktum zu erfahren. Es scheint wenig wahrscheinlich, daß sie es beim Vermuten beließ, aber Holgers Oma wird sie wohl beruhigt haben.
An einem Tag, der mir später noch oft erzählt wurde, kam Holger in die Sandgrube und berichtete, seine Oma habe ihm gesagt, er möge doch hingehen »wo der Pfeffer wächst«. Er beichtete, daß er weder wisse, warum sie solches von ihm wolle, noch wo der Pfeffer denn wachse. Ich erwiderte ihm, daß wir dies nur herausfinden könnten, wenn wir uns sogleich auf den Weg machten. Also machten wir uns auf die Reise dorthin, wo der Pfeffer wächst. Es war ein sehr schöner Sommermorgen, als die beiden Dreijährigen daran gingen, den Plan umzusetzen. Wir holten unsere Dreiräder aus dem Vorraum der Schweineställe und öffneten das Hoftor. Niemand bemerkte, wie wir das Grundstück verließen und auf dem Schotterweg in die Pedalen traten. Die Dreiräder waren damals noch deutsche Wertarbeit, und sie leisteten bei hinreichendem Willen Außerordentliches.
Ich habe mich später oft gefragt, ob ich damals wußte, daß der Pfeffer in Indien wächst und daß dies in südöstlicher Richtung liegt. Die Richtung stimmte jedenfalls. Wahrscheinlicher ist es aber, daß in dieser Richtung offenbar das weite Land lag. Im Norden lag die Stadt, also nicht Indien. Überhaupt mieden wir auf der Reise alle Dörfer, dies aber wohl weniger aus Furcht, erwischt und heimgebracht zu werden, eher schien es uns ganz unmöglich, daß der Weg nach Indien oder wie immer wir diesen Ort damals nannten durch kultiviertes Gelände gehen sollte. Gleichwohl waren damals auch die Felder nicht menschenleer, und so mag es doch manchen Zeugen unseres Zuges gegeben haben, der später den Verfolgern die Suche erleicherte. Nachdem der Friedhofshügel erklommen war, schien bereits die größte Schwierigkeit überwunden. Eine Weile rollten die Dreiräder von selber, und neugierige Blicke konnten uns auch nicht mehr folgen. Der Weg war frei. Ich habe als Kind bei jeder Gegenheit gesungen, und es scheint mir deshalb auch sicher, daß ich bei diesem Hochgefühl gesungen habe. Es ging ins Tal des Moderwitzbaches, wo immer ein leichter Wind wehrt, der so viel von Freiheit und Ferne zu erzählen weiß. Im Tal abgekommen zweigt ein Trampelpfad direkt nach Moderwitz ab. Den konnten wir mit den Dreirädern ohnehin nicht benutzen, außerdem wollten wir ja ins freie Land. Heute wäre an dieser Stelle schon Schluß, denn eine monströse Schnellstraße quert hier von Abraumhalden verdeckt das einst so verträumte Tal. Jede Geschichte der Kindheit ist eine Geschichte von unwiderruflich Verlorenem.
Damals ging der Schotterweg geradewegs auf die Landstraße nach Schleiz zu. An der Ecke befindet sich noch ein Gehöft, das zur Flur von Arnshaugk gehört. Es hat die Hausnummer 19 a, das Haus meiner Eltern hat die 19. Immerhin liegt gut ein halber Kilometer dazwischen. Das sind so Dinge, die einem bewußt machen, wie wirkmächtig sich die Geschichte oft in Alltagsdingen zeigt.
Auf der Landstraße, für damalige Verhältnisse doch schon recht befahren, wollten wir freilich nicht bleiben, zumal sie direkt ins Dorf Modernwitz hineinführte. So bogen wir, schräg von rechts in die Schleizer Straße hereinkommend, hundert Meter später bei der ersten Gelegenheit links ab, ein Feldweg führte noch vor dem ersten Gehöft stramm nach Osten und zwar wieder einen Hügel hinauf und damit zum nahen Horizont. Auf dem Feldweg mußten wir unsere Dreiräder wohl schieben, es war einfach zu uneben und stellenweise bewachsen. Daß sich die Straßenverhältnisse verschlechterten, durfte uns aber nur bestätigen, daß wir auf dem richtigen Weg waren. Den Hügel erklommen, konnten wir bereits Weltwitz sehen. Das ist ein viel kleineres Dorf als Moderwitz und noch verträumter zwischen mehreren Hügeln, also ganz gewiß die richtige Richtung.
Nach Weltwitz sind es zwei Kilometer, und dies war auch der größte Abschnitt unserer Reise. Uns begegnete niemand und stellte blöde Fragen. Wir hatten uns viel zu erzählen und wohl das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Jedenfalls rief niemand zum Essen, als es gerade am spannendsten war. Der Weg ging leicht hügelig durchs Gelände, er war nicht zu schwer, aber auch nicht eintönig. Holger kannte sich schon ein bißchen mit Pflanzen aus und wird mich auf manches hingewiesen haben. Ich genoß die Zweisamkeit und das Fehlen von aller Störung.
Kurz vor Weltwitz bogen wir wieder rechtwinklig ab, nach Süden auf den Weltwitzer Stausee zu, an den sich der dichte Wald von Mosbach anschließt. Bevor wir den Wald erreichten, in dem ich mich später wirklich einmal verlaufen habe, wurden wir eingeholt, denn wir waren als Dreijährigige doch noch nicht so gut zu fuß. Immerhin hatten wir vier Kilometer zurückgelegt. Als wir eingeholt wurden, war die Stimmung noch bestens, kein böser Hunger und auch keine Abendkühle hatten sich bislang eingestellt. Unsere Antwort auf die Frage nach unserem Ziel war natürlich entwaffnend für die Erwachsenen. Meine Mutter hat mir dann erklärt, daß der Pfeffer in Indien an der Malabarküste wachse, wo auch Tee, Kaffee, Zimt und Kokospalmen zuhause seien. Dies sei eine besonders regenreiche und also sumpfige Gegend, wo es von Mücken und anderem Ungeziefer wimmle. Also ein Ort, wo man ganz gewiß nicht hinwolle. Und das Wort von Holgers Oma sei natürlich nicht ernstgemeint gewesen. Daß es Dinge im Ernst und leeres Gerede gibt, weiß man auch als Dreijähriger schon. Sie erzählte mir natürlich auch, wieviele Helfer bei der Suche nach den Ausreißern beteiligt gewesen waren und welche glücklichen Zufälle ihnen zu Hilfe gekommen seien. Das interessierte mich aber alles nicht besonders. Entscheidend war, daß ich durch mein Handeln eine Auskunft ertrotzt hatte, die mir sonst nur nach sehr nervigem Fragen zugekommen wäre. Und lesen konnte ich ja damals noch nicht.