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Rilke und Rußland

Die Scheidung, ob einer Dichter oder Schriftsteller sei, wird oft mit dem Ortbewußtsein zusammengebracht. Während dem Dichter seine Wurzeln, Heimat und kindliche Welt wesentlich bleiben, neigen Schriftsteller zum Größstädtischen, Überreginalen und Übernationalen. Sie zeigen eine größere Nähe zum Journalismus, der wesentlich auf Reisen ist und es geradezu als seinen Beruf ansieht, Nachrichten von einem Orte zum anderen zu bringen. Rainer Maria Rilke paßt nicht in das Schema. Das Prag der deutschen Minderheit, die zerbrochene Ehe seiner Eltern, die ihn in ein Militärinternat steckten, waren ihm nie eine Heimat. Zuhause war eher am ehesten in den Künstlerkolonien in München, Berlin, Worpswede und schließlich Paris. Aber auch dort im Grunde nicht. Die Maler und Bildhauer, mit denen er verkehrte, werkten in einem anderen Metier. Zur deutschen Dichtung hatte dieser Dichter wenig Beziehung und zum deutschen Volk noch weniger. Er blieb randständig wie die Deutschen in Prag.
Im Unterschied zu vielen anderen Künstlern und Literaten hat Rilke jedoch diese Heimat bitter vermißt und immer gewußt, daß er als Dichter nicht ohne eine solche schaffen könne. Da er sie nicht in der Kindheit geschenkt bekam, mußte er sie finden oder erfinden (eine Scheidung, die noch genauer untersucht zu werden verdient) und die Heimat hieß für ihn: Rußland.
Der Beginn dieser Identifikation liegt im dunkeln. Schon auf der Linzer Handelsakademie hat er Tostoi gelesen und Julius Zeyer soll ihm von Rußland erzählt haben. Nach der Übersiedlung nach München hat ihn Jakob Wassermann für die russische Literatur zu interessieren gesucht. Das entscheidende ist freilich die Begegnung mit Lou Andreas-Salome, mit der er auch seine beiden Rußland-Reisen unternahm.
Lou Andreas-Salome wurde immer als die »Russin« bezeichnet, was sie eigentlich gar nicht war. Sie wurde zwar in Petersburg geboren, ihr Vater war ein südfranzösischer Hugenotte, der es in den Generalstab geschafft hatte und unter Zar Nikolaus I. geadelt wurde, die Mutter eine Norddeutsche. Sie wuchs dreisprachig auf und wurde in jeder Hinsicht verwöhnt. Dies beantwortete sie mit einer Rebellion und dem festen Willen, sich niemals im Leben in eine Rolle zu fügen. Durch die berühmten Männer, denen sie reihenweise den Kopf verdrehte, um ihnen dann eine Abfuhr zu erteilen, ging sie in die Kulturgeschichte ein. Ihr Ehemann mußte sich ihr Ja mit dem Verzicht auf Sexualität erkaufen, er hat ihre zahllosen amorösen Abenteuer ertragen und ihr die Treue gehalten bis sie, alt und krank wieder Zeit für ihn hatte.
Nachdem Rilke Lou in München kennenlernte, zog er sogleich zu ihr nach Berlin. Ein ungleicheres Paar ist schwer vorzustellen. Hier die 36jährige Frau, die schon eine Generation von Künstlern und Philosophen verschlissen hatte und vor Selbstbewußtsein nur so strotzte, dort der 21jähirge Dichter, der seine militärische Ausbildung krankheitshalber abgebochen hatte und von der Handelsakademie wegen einer Liebelei mit einem deutlich älteren Kindermädchen gefeuert worden war. Zum Abitur kam er durch Privatunterricht, also wiederum fern von Kameraden und Altersgenossen. Ihm fehlte nicht nur die Kindheit, sondern auch die Jugend. Von einer richtigen Jungenfreundschaft ist nichts bekannt.
Daß sich der Junge der erfahrenen Frau hemmungslos hingab, wird schon durch den Umstand deutlich, daß er, auf ihre Veranlassung hin, seinen Namen änderte. Sie fand René zu unmännlich, und also legte der Dichter sein bisheriges Leben ab. Ein pikantes Detail bei ihrer Namenskritik ist übrigens, daß sie früher schon einmal einen Liebhaber hatte, der zwar nicht René, aber zum Verwechseln ähnlich Rée hieß. Es ist nicht schwer nachvollziehbar, daß die weltgewandte Dame nach gewisser Zeit das Klammern des Jüngeren, seine Weinkrämpfe, Angstverfassungen und körperlichen Anfälle (so schreibt sie in ihren Erinnerungen) nicht mehr ertrug und ihrem Tagebuch anvertraute, daß sie, »damit R. fortginge, einer Brutalität fähig wäre«.
Rilke hat wenige Monate nach dem Bruch in Worpswede die Bildhauerin Clara Westhoff geheiratet, eine Tochter gezeugt und im Nachbardorf ein Haus erworben. Aber bereits nach zwei Jahren gab er alles auf und ging nach Paris. Er hatte dann niemals eine Familie und wurde auch niemals seßhaft. Zurück zu Rußland. Es steht die Auffassung im Raume, Rilkes Rußland sei eine reine Fiktion, ein Konstrukt, um persönlich ein Defizit auszugleichen, ein literarisches Utopia, das mit der Realität des Zarenreichen wenig bis nichts zu tun gehabt habe. Dafür spricht zunächst die etwas krampfhafte Bemühtheit, die Rilke an den Tag legte. Seine sonst sehr moderat formulierte, aber in der Sache scharfe Analyse, von dem was seelisch und poetisch paßt und was nicht, wird im Falle Tostois ausgeblendet. Die Begegnung hätte fast zu einem Eklat geführt, da Rilke von der russischen Volksfrömmigkeit und vom orthodoxen Ritus schwärmte, während Tostoi dies als furchtbaren Aberglauben verdammte. Im übrigen werden nichtssagende Höflichkeiten ausgetauscht. Der große Altersunterschied mag diese etwas künstliche Harmonie entschuldigen.
Zwischen seinen beiden Rußlandreisen, die nur ein Jahr auseinander langen, erhielt Rilke Verse des Bauerndichters Droshshin, die er umgehend nachdichtete. Er schwämte von der »reifen Einsamkeit, in der sich ein tiefer und und stiller, einsamer Mensch« verrate. Als ihm noch Einzelheiten aus dem Leben des Dichters mitgeteilt wurden, nämlich, daß er sommers seinen Acker pflüge und nur im Winter dichtete, verstärkte sich seine Begeisterung. Dies sei, so meinte er, die Verkörperung des Volkssängers, des russischen Homer, in dessen Liedern das Altertum wiederklänge. Das Wort Homer nimmt sich hier besonders eigenartig aus, wenn man in Rechnung stellt, daß Rilke eine so unmilitärische Natur war, daß man ihn sogar im Weltkrieg nach wenigen Monaten aus dem Dienst, den er zudem meist im Archiv zugebracht hatte, entließ.
Die russische Seele, wie Rilke sie erfaßt ist, hat nichts mit den Eroberern Troias gemein, nicht einmal mit der Neulandgewinnung in Sibrien oder dem Kampf gegen die Tataren, es ist die duldende Seele, die Rilke im »Stundenbuch« gestaltet hat. Auf der zweiten Rußlandreise besucht er den Bauerndichter selbst und schwärmt von dessen Balkenhütte als einem Schatzhaus. Wertvollste Autographen fänden sich in dieser Bibliothek, die Fenster der Stuben gingen in den Garten mit Rosen und Gemüse, eine große Familie werde von beispielloser Schlichtheit und Güte geführt. Hier sei es wohnlich wie nirgends. Aber als ihn der Dichter mit dem Gutsherrn der Gegend bekanntmachte, fand Rilke dort »so herzliche Aufnahme, daß er die restlichen Tage aus der Hütte ins Schloß« übersiedelte und »alle Bequemlichkeiten des schönen Hauses und alle Freuden des reichen Parkes« dankbar genoß. Diese Familie schien Rilke so »echt russisch, sehr konservativ und tiefgläubig«, daß er den vorzeitigen Abschied von dem Bauerndichter gar nicht thematisieren muß. Eine echte Bindung sieht anders aus. Aber Droshshin wird schon gewußt haben, daß es vernünftig sei, den Westler mit dem Gutsherren bekannt zu machen.
Was Rilke sonst von seinen Rußlandreisen berichtet, sind zahllose Besuche von Museen, Galerien und privaten Sammlungen, auch viele Begegnungen mit bildenden Künstlern auf dem Höhepunkt des Jugendstil und natürlich die Erfahrung von Weite und großräumiger Landschaft, insbesondere bei der Schiffsreise auf der Wolga. Aber ich halte die Begegnung mit dem Bauerndichter für die entscheidende Szene, gerade auch, weil bei Rilke und in der Kunst seiner Zeit überhaupt die Frage nach dem Selbstverständnis des Künsters so zentral in vielen Kunstäußerungen ist. Der Dichter des Stundenbuches sucht Gott und er sucht ihn gerade in Rußland, aber seine Verse zeigen auch immer wieder, ähnlich wie bei Angelus Silesius, den Anrufer als den Schöpfer Göttes. Im Grunde wiegt sich das ganze Buch zwischen den Polen einer Künstlerphilosophie und der Demut vor der reinen Güte Gottes.
Rilke erwog ja sogar einmal, nach Rußland zu übersiedeln, wovor ihn allerdings seine russischen Freunde ganz entschieden warnten. In den Wirren der Kriegsjahre ließ er sich sich heinreisen, die russische Revolution zu bejubeln und auf großartige Verbesserungen, gar eine neue Brüderlichkeit zu hoffen. Ähnlich erging es ihm im November 1918 in München. Naiv gläubig warf er sich den Anarchisten an die Brust und meinte später, daß die »unerhörten Möglichkeiten« jener Tage nicht genutzt worden seien.
Einige Jahre später rief er angesichts der Machtübernahme Benito Mussolinis „Glückliches Italien!“ Dabei rechtfertigte er auch Gewalttaten, um dem Land einen Aufstieg zu verschaffen. Es gelte auch über Ungerechtigkeiten hinweg zur Aktion zu schreiten. Die westlichen Ideen seien hingegen nichts als Abstraktionen, an denen Europa beinahe zusammengebrochen wäre.
Glücklicherweise hat sich Rilke nur sehr selten zu politischen Fragen geäußert und ist auch an Leukämie verstorben, bevor in Europa das Ringen der Ideologien nicht nur Staaten sondern auch Familien zerschnitt. Die von mir bis zu diesem Punkt aufgezählten Fakten scheinen alle die These stützen, bei Rilkes Rußland habe es sich um ein Traumschloß oder zumindest um eine Art Künstlerphilosophie gehandelt.
Aber mit den Reisen und den Revolutionen ist das Thema noch nicht beendet. Rilke hält auch in späteren Jahren seinem Lande der Sehnsucht die Treue. Er übersetzt das Igorlied, Lermontow, Tjutschew, Sologub. Er bespricht Alexej Tostois Drama »Zar Fjodor« und lernt auf Capri Maxim Gorki kennen. Von Nishinski im Ballett »Spektrum der Rose« berichtet er überaus begeistert und will ihn für den Stück oder ein Gedicht schreiben. Er ist befreundet mit dem russischen Tänzerpaar Sacharow. 1920 in Genf verkehrt er mit dem bekannten Schauspieler George Pitojew. In seinem »Testament« von 1921 meint er, die Heimsuchungen seiner Kindheit seien mit einem Schlag in der ersten Moskauer Nacht überwunden worden.
In seinen letzten Lebensjahren wurde er erneut von der Sehnsucht nach Rußland gepackt. Er begegnete dem Schriftsteller Iwan Bunin. In Paris besuchte er das Puppentheater der Julia Sasonowa und tauschte mit der Künstlertruppe Erinnerungen an Rußland aus. Schließlich stellte er eine russische Studentin als Sekretärin ein.
Eine besondere Beziehung entwickelte er zu den Dichtern Boris Pasternak und Marina Zwetajewa. Pasternak hatte Rilke nur einmal als Kind gesehen, als dieser seinen Vater besuchte. Pasternak schrieb vor seinem Tode, daß er mit seinen eigenen Versuchen, in seinem ganzen Schaffen nichts anderes getan habe, als Rilke zu übersetzen und seine Motive zu variieren, ohne aber etwas zu seiner Welt hinzuzufügen. Gegenüber Oskar Maria Graf bekannte Pasternak 1934 in Moskau, Rilke sei »ganz russisch... wie Gogol... wie Tostoi!«
Marina Zwetajewa hat Rilke niemals gesehen, obgleich sie in Paris lebte und dies hätte einrichten können. Sie bestand jedoch auf einer Briefbeziehung, die das Geistige reiner zur Entfaltung brächte. Daß sie eine große Dichterin und außerdem eine tragische Gestalt sei, werde nicht bestritten, aber die Briefe an Rilke berühren den Leser doch peinlich. Man fühlt sich bei diesen ungezügelten Huldigungen an die heutige überwiegend weibliche Rilkegemeinde erinnert, die zuzeiten Lesungen von Versen ihres Idols veranstaltet. Bei solchen Gelegenheiten drängt sich einem das Wort Rilkes auf, der Ruhm sei die Summe aller Mißverständnisse. Denn Rilke war zwar entwurzelt, ein Sucher und in mancher Weise lebensfremd und lebensuntüchtig, aber er war kein Schwärmer. Seine künstlerischen Urteile sind fundiert und nachvollziehbar. Freilich muß man seine Verse nicht verstehen, um sie zu lieben. Es ist ja bekannt, daß Rilke mit seinen frühen Gedichten, bei sich denen Thema, Mitte und Ziel unklar und verschwommen auf den Reimen wiegen, viel Erfolg hatte und die »Neuen Gedichte«, wo es sich eine an Rodin geschulte Gestalthaftigkeit bemüht, beim Publikum auf Ablehnung stießen. Mit einem Publikum, das an Rilke eine geradezu buddhistische Leere schätzt, soll Marina Zwetajewa freilich nicht verwechselt werden. Sie, deren Sehnsucht nach Rußland sie schließlich in den Tod führte, hat in Rilke offenbar etwas gespürt, wofür deutsche Ohren nur sehr selten einen sensus entwickeln.
Wenn wir die Gegenwart betrachten, dürfen wir feststellen, daß Rilke in Deutschland, abgesehen von den erwähnten Damenzirkeln, wenig rezipiert wird. Allgemein bekannt ist sein Gedicht »Der Panther«, was dem modernen Menschen als bedrückendes Gleichnis gilt, ihm aber dabei zugleich schmeichelt, und der Beginn des Stundesbuches. Die meisten Werkausgaben, insbesondere aber die Fülle der Bände mit Rilkes Briefkorrespondenz, wurden mittlerweile vom Inselverlag verramscht. In Rußland hingegen ist Rilke der am stärksten gelesene nichtrussische Dichter. Die Auflagenzahlen liegen hundertmal höher als im deutschen Sprachraum. Zahllose Dichter versuchten sich und versuchen sich weiter dabei, Rilkes Verse in der russischen Sprache nachzubilden. Wer aus dem Deutschen nachdichtet, beginnt mit Rilke.
Diese Fakten scheinen mir bei dem Urteil, Rilkes Rußland sei eine Träumerei, unzureichend einbezogen. Daß Rilkes Rußlandbild sich auf wenig Erfahrung stürzt, schließt nicht aus, daß er ein getreueres Rußland antizipiert haben möge, als jene, die rastlos durch die Lande reisen und jedermann interviewen. Dies darf durchaus in einer Phase betont werden, da Rußland nach der stalistischen Erstarrung von Krisen geschüttelt wieder nach dem Glauben und der Wiederbelebung seiner religiösen Tradition sucht. Für einen kurzatmigen Westler sind das Dinge ohne Relevanz. Aber Rilke meinte einmal hellsichtig, der geistige Mensch müsse ja von vornherein ein Gegner und Leugner der Revolution sein, da er wisse, wie langsam sich alle Veränderungen von dauernder Bedeutung vollziehen, wie unscheinbar sie sind.
Das Thema Rilke und Rußland ist noch nicht abgeschlossen.